Die Pferdelords 01 - Der Sturm der Orks. Michael Schenk
Das waren sechstausend Pfeile, die in der Minute gegen die Orks
gerichtet werden konnten. Die drei Kohorten schafften nicht einmal die Hälfte
der Distanz. Und nach kaum einer Minute stand kein Ork mehr auf seinen
Füßen.
Elfische Schwerter senkten sich durch die Kehlen verwundeter Bestien,
Pfeile wurden aus den Kadavern gezogen, auf ihre Verwendbarkeit geprüft
und gesäubert in die Köcher zurückgesteckt. Dann marschierte die Kolonne
der dreihundert elfischen Bogenschützen unbeirrt weiter, der Bergfestung des
Pferdevolkes entgegen.
Die Geschwister Leoryn und Lotaras waren der elfischen Truppe mit den
Blicken gefolgt, bis diese endgültig in Richtung des großen Gebirges
verschwunden war. Auch Lotaras trug den hohen Helm mit der aufragenden
goldenen Lilie des Hauses Elodarion und den blauen Umhang des elfischen
Volkes. Doch zum ersten Mal fühlte er sich seltsam allein, und seine
Schwester empfand ebenso. Sie legte ihre Hand in die seine, und beide sahen
sich in stillem Einvernehmen an, bevor sie ihre Pferde nach Norden lenkten.
Sie ritten durch ein Land, das vom Krieg heimgesucht worden war. Die
Spuren waren nicht zu übersehen. Rauchsäulen, deren jede ein Gehöft oder
einen Weiler markierte, standen am Himmel und zerfaserten zu dünnen
Fahnen, die im Wind dahintrieben. Nur oben im Norden waren die Marken
des Pferdekönigs noch unberührt, und es schien, als würde ein finsteres Band
den Süden und den Norden voneinander trennen.
Die elfischen Geschwister trieben ihre Reitpferde nicht zur Eile, denn sie
sollten frisch und ausgeruht sein, falls ihre Kraft für eine rasche Flucht
benötigt wurde.
Überall hatten Kämpfe stattgefunden, die einem Gemetzel gleichkamen:
Frauen und Kinder des Pferdevolkes waren auf der Flucht von den Horden
der Orks einfach erschlagen worden. Nur wenige Männer waren unter ihnen,
und nur einmal fanden sie einen Trupp toter Pferdelords zwischen den
Kadavern von Orks liegen.
»Sie leisten Widerstand«, stellte Lotaras befriedigt fest.
»Ja, aber sie sind überwältigt worden.« Leoryn deutete über den
Schauplatz des Gefechtes.
»Ja, hier wurden sie überwältigt.« Lotaras nickte mit ernstem Gesicht und
deutete über das weite Land. »Die Pferdelords leben verstreut in ihren
Marken. Es sind jeweils wenige Männer auf den einzelnen Gehöften und
Weilern, und es gibt nur wenige größere Ortschaften. Doch diese Gruppe hier
zeigt mir ganz deutlich, dass der Pferdekönig sie einberief und dass die
Männer sich zum Widerstand sammeln. Verstehst du, Leoryn, der König zieht
seine Streitmacht zusammen, und diese Streitmacht wird kämpfen. Die
Pferdelords verstehen sich auf den Umgang mit ihren Waffen. Also besteht
eine gute Chance, dass sie bestehen können.«
»In ihrer Bergfestung.«
»Dorthin wird der König sie rufen.« Lotaras nickte unbewusst. »Und
dorthin werden sie kommen, wenn die Horden ihnen nicht den Weg
versperren. Wir sind nun an der Grenze zwischen der Reitermark und der
Nordmark der Pferdelords. Dort im Westen erhebt sich der Turm des Weißen
Zauberers, er wird den Menschenwesen seine Hilfe nicht verwehren. Doch
unser Weg führt nun weiter nach Norden. Jenseits der versteinerten Wälder
muss sich das verborgene Haus befinden.«
»Glaubst du, dass es noch besteht?« Leoryn blickte zweifelnd in nördliche
Richtung. »Schon lange haben wir nichts mehr vom verborgenen Haus
gehört. Vielleicht ist es schon längst von den Dunklen Mächten überwunden
worden.«
»Es gehört zu den ältesten und weisesten Häusern der Elfen.« Lotaras
lächelte. »Und zu seinen stärksten. Deshalb muss es in jedem Fall von der
Erneuerung des Bundes erfahren, wenn es noch besteht.«
»Du hast recht«, seufzte Leoryn. »Doch ich vermisse unsere Wälder. Das
sanfte Wiegen der Blumen und Gräser und das Murmeln der Bäche.«
»Auch ich vermisse unser elfisches Land.« Lotaras sah sie ermutigend an.
»Doch nun lass uns reiten, meine Schwester. Denn je eher wir das verborgene
Haus gefunden und unsere Botschaft übermittelt haben, desto eher werden wir
auch das Haus Elodarions wiedersehen.«
Die Pferde des Elfenvolkes waren edle Tiere, die über Generationen
hinweg zu schnellen und ausdauernden Läufern herangezüchtet worden
waren. Ein wenig höher und langbeiniger als die Pferde der Menschenwesen,
waren sie außerdem ausdauernder, aber nicht so kraftvoll wie die Tiere des
Pferdevolkes. Es gab nicht viele Pferde bei den Elfen, denn die meisten der
Häuser bestanden im Wald und an der Küste, wo es nicht viel Verwendung
für Pferde gab. Das Haus Elodarions hatte sich allerdings schon lange der
Pferdezucht gewidmet, und die beiden Tiere trugen die Geschwister nun rasch
in die Nordmark des Pferdekönigs, in der sie auf die erste Schar von
Pferdelords stießen.
Es war nur ein kleiner Trupp von circa fünfundzwanzig Reitern. Die
Männer trugen die grünen Umhänge mit dem schmalen goldenen Saum der
Königsmark, und der Wimpel des Scharführers zeigte neben dem
galoppierenden weißen Pferd auch die weiße Halbsonne. Den letzten
unzweifelhaften Hinweis lieferten jedoch die Helme der Männer, an deren
jedem der goldene Rosshaarschweif der königlichen Wache wehte. Die Schar
galoppierte zunächst ein Stück weit von den Elfen entfernt, doch als sie die
beiden anderen Reiter bemerkte, schwenkte der Trupp sofort ein und näherte
sich Lotaras und Leoryn in Linie. Kurz vor ihnen zügelten die Pferdelords
ihre Tiere. Die Lanzen der Männer waren halb gesenkt, gleichermaßen wie
zum Gruß wie auch zum Hinweis auf ihre Kampfbereitschaft. Menschen wie
Elfen schwiegen zunächst eine ganze Weile, in der sie einander beobachteten.