Drachenkind. . . .
eigentlich längst als Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. Etwas in seinem Inneren gab ihm Kraft und trieb ihn vehement voran, auf der Suche nach etwas anderem. Eine unsichtbare Gewalt, welche ihn trotz aller Erschöpfung und Sorge am Leben hielt. Er akzeptierte die Möglichkeit der Veränderung, der Idee einer inneren Verwandlung. Es war genau das, was durch die letzten Wochen erneut mit ihm geschah, wenn auch nicht im positiven Sinne. Kein Zweifel hing mehr an ihm fest, er dachte nicht mehr an Jan, nicht an dessen Freunde und nicht mehr an Jack. Jeder Sinn war auf ein Signal aus seinem Inneren gelenkt, als würde er auf etwas warten. Zeit verstrich unbeobachtet und wertlos.
Schließlich fühlte Eric etwas. Es war wie ein leichter Druck, der irgendwo in seinem Körper auftauchte, er konnte nicht ausmachen, wo. Eine merkwürdige Hitze. Sie war nicht schmerzhaft oder schädlich, wurde aber so schnell stärker, dass Erics Ruhe jäh in Bewegung geriet. Er spürte eine Art Erinnerung, kurz und heftig sah er nur Feuer und Glut, fühlte sich sofort extrem an die im Augenblick eigentlich so fernen Träume erinnert. Erschrocken öffnete er die Augen. Wenn er nicht wie gelähmt gewesen wäre, wäre er ins Wasser gefallen. Von dort unten, drei Meter unter seinen Füßen, sah ihn etwas an, das er so noch nie gesehen hatte. Es war unter der Wasseroberfläche, wie hinter einer kristallinen Barriere. Die Umrisse eines riesigen und fast schwarzen, tiefblau geschuppten Kopfes, fast so groß, wie Eric selbst, und große, mandelförmige Augen. Eric blinzelte und wusste nicht, ob er glauben konnte, was er da sah, aber er tat es. Er akzeptierte das Wesen, was da wie ein schattiges Phänomen mit glühendem Blick unter ihm war und ihn ebenso anschaute, wie das Wesen hinter der Kristallmauer. Eric sah direkt in die Augen des Geschöpfes, die ihn vollkommen in ihren Bann zogen, ihn fesselten und beherrschten. Sie hatten eine leuchtend goldgrüne Farbe und trotzdem glaubte Eric, darin die Hitze und das rote Feuer eines ganzen Waldbrandes zu sehen. Er konnte die Hitze spüren, bemerkte, wie er sich völlig vergaß und die altbekannte Angst ihn langsam umschloss. Die Augen des Wesens bohrten sich so tief in sein Inneres, dass er sich schon wunderte, überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen zu können. Das Wasser bewegte sich minimal, dann kam der Schock: Das Biest sprang mit einer Urgewalt nach oben und schnappte zu, riss Eric mitsamt dem dicken Ast aus der Baumkrone und zog ihn unter Wasser. Die Beschleunigung ließ Eric fast ohnmächtig werden, er konnte weder schreien noch sich bewegen, blitzschnell war alles vorüber und es formte sich eine neue Realität, ehe er auch nur annähernd etwas denken konnte.
Er sah eine Landschaft, bläulich schimmernd und an manchen Stellen die rote Sonne reflektierend, es wurde Abend. Eisplatten, größer als Fußballfelder. Das hellblaue Muster im Eis war so bildschön, dass Eric sich wünschte, er könnte es malen. Der Himmel war klar und weiß-rote Wolken zogen mit rasender Geschwindigkeit über ihn hinweg. Die eisige Kälte erfasste Eric so brutal, dass er fast augenblicklich erstarrte. Er spürte eine Erinnerung. Dies war der Beginn von einem der ältesten Träume, der bereits lange verstummt war. Er würde erfrieren, einsam und verloren. Doch etwas war anders.
Am Horizont sah er etwas am Himmel, es bewegte sich sehr schnell, wurde immer größer. Erst sah es wie ein großer Vogel aus, aber schon bald erkannte Eric die schwarzblaue, trotzdem leuchtende Farbe und die mandelförmigen, unbeschreiblichen Augen. Der eiskalte Sturm, welcher die Wolken wie Schafe vor sich her hetzte, verschwand augenblicklich. Kein Ton, als hätte man nach einer Woche lauter Musik plötzlich den Strom abgestellt. Die Stille war so erdrückend, als würde er vergessen, wie sich Hören überhaupt anfühlte. Das Tier schwebte einen Moment lang weit über ihm im Kreis, schien sich umzusehen. Dann faltete es die Flügel zusammen und fiel wie ein Fels aus der Luft. Im letzten Moment, kaum zehn Meter über dem Boden, klappten die riesigen Flügel blitzschnell wieder auf und eine erbarmungslose Druckwelle fegte Milliarden von Eiskristallen über den weißblauen Boden, schlug Eric stechend kalt um die Ohren und wehte ihn um.
Der Drache war riesig. Bis zum Kopf mindestens elf Meter hoch und von der Schnauze bis zur Schwanzspitze mussten es mehr als siebzehn Meter sein. Die Maße wehten einfach wie eine Gewissheit durch Erics Geist, er hatte nur Augen für die Schönheit des Drachen, der ihn mit seinem lähmenden Blick misstrauisch anstarrte und jede Bewegung von Eric scharf verfolgte, der sich mit tauben Gliedmaßen und zunehmend bläulichen Lippen wieder aufrappelte. Seine Schuppen glänzten leicht, fingen das magische Blau des Eises und die Farben der Wolken ein und als Eric die Muskeln und Krallen des Tieres sah, machte er instinktiv ein paar Schritte zurück, was der Drache seinerseits ohne Verzögerung mit einem Schritt auf Eric zu beantwortete. Weiter konnte Eric nicht, er war wieder von den Augen eingefangen. Doch der Drache blieb nicht stehen. Eric konnte die Augen nicht deuten, war sich nicht sicher, ob er Tod und reine Bösartigkeit oder nur Vorsicht und Offenheit in ihnen sah. Das gewaltige Wesen wirkte eher so, als wäre Ersteres der Fall, martialisch und brutal. Doch etwas in Eric machte ihm klar, dass es sinnlos war, die Situation menschlich zu bemessen. Er hatte keinen Menschen vor sich. Die Hitze, die der Drache ausstrahlte, war angenehm aber sehr stark und das Eis unter ihm fing an zu schmelzen. Der Drache knurrte leise, senkte leicht den Kopf und kam immer näher. Eric spürte das grollende Geräusch im Bauch, beobachtete, wie der mächtige Ton die Oberfläche des Schmelzwassers kräuselte. Er spürte eine Stimme in seinem Kopf:
»Ich kenne dich. Bleib stehen.«
Er schnüffelte an Eric, der ihm erschrocken ausweichen wollte aber nicht konnte. Der Drache wirkte, als würde er Erics Angst sofort erkennen. Seine Augen verengten sich, blitzschnell und brutal schlug eine seiner Klauen keinen Meter neben Eric ins Eis und die langen, scharfen Krallen gruben sich langsam, unaufhaltsam und unter splitterndem Knacken in das steinharte Eis. Eric erschrak heftig, spürte den Aufprall in den Knien und einige der kleinsten Splitter trafen ihn am Kopf, in welchem sich erneut Worte formten:
»Bleib stehen.«
Der Drache öffnete sein Maul einen Spalt weit, näherte sich bis auf kaum eine Armlänge. Eric erkannte Zähne, in mehreren Reihen und Größen, wie er sie noch nie gesehen hatte und eine Art Greifzunge mit langen, schlangengleichen Gliedern, vermutlich genauso gefährlich wie die unglaublich spitzen Zähne selbst. Der Drache atmete die eisige, sauerstoffreiche Luft ein, was seinen Schlund kurz feurig aufglühen ließ. Wie ein kurzer Windstoß von hinten zog die Luft schnell und heftig an Eric vorbei und er taumelte vorwärts, wäre fast in sein Verderben gestolpert. Ein merkwürdiger Geschmack entstand in seinem Mund und kribbelte in der Nase, kreiste hinter seiner Stirn und wehte durch seinen Kopf, er öffnete das Maul noch weiter, atmete eine unglaublich heiße Luft wieder aus und Eric spürte genau dieselbe Panik wie in seinem Traum, bevor das Monster ihn erreichte und auffraß.
»Die andere Seite. Endlich. Wach auf, das hier ist real. Zeige keine Angst. Vertraue niemals blind, sonst vertraue ich dir nicht. Das wäre sehr schlecht für dich.«
Eric glaubte, sich verhört zu haben. Selbst, falls er überhaupt verständliche Worte erwartet hätte, dann hätte er irgendetwas Gebieterisches oder Stolzes und vor allem vornehme Sprache erwartet. Aber dieser Drache kam nicht aus irgendeinem Märchenbuch und vermutlich waren ihm Sprache, Goldschätze und Prinzessinnen ebenfalls völlig egal. Es gab nichts in Erics Leben, was diesen Moment hätte beschreiben oder vorbereiten können. Er zitterte am ganzen Leib, es beunruhigte ihn, dass die erste Mitteilung dieses Riesen nach dessen direkter und derber Warnung, einer offenen Drohung sehr nahe kam. Und nun, wo er das Maul des Tieres keinen halben Meter vor sich hatte, überlegte er schon, wie bequem er darin Platz hätte. Seine Zunge bewegte sich langsam, tief im Inneren der Nüstern erkannte er höllische Glut und ein heißer Lufthauch wehte ihm erneut ins Gesicht, erinnerte ihn fast zynisch daran, dass er bald erfrieren würde. Eigentlich. Gerade jetzt war das unmöglich, bei der Hitze, welche er vor sich hatte. Erst jetzt wurde Eric bewusst, wie unglaublich dunkel der Drache war. Die Schuppen machten irgendwas mit dem Licht, es war beinahe unmöglich, ihre wahre Farbe und Beschaffenheit zu bestimmen. Seine Klauen zuckten kurz, er zog sie aus dem Eis und neben Eric blieb ein beachtliches und dampfendes Loch im Boden zurück, welches sich sofort mit Schmelzwasser füllte.
Eric kämpfte gegen den Drang an, wegzulaufen. Würde sowieso nicht funktionieren. Er vertraute einfach auf die Freundlichkeit des Drachen und hoffte, dass der sein Misstrauen verlieren würde. In einer Geste, welche ihn instinktiv überkam, kniete er sich mühevoll hin und verneigte sich. Unterwerfung. Einen Moment lang, es kam ihm wie ein Leben vor, geschah gar nichts. Der Drache las immer noch seine Gedanken und Gefühle und Eric spürte seine Unentschlossenheit,