Drachenkind. . . .
dann, Eric hatte schon geglaubt, er würde abermals sterben, faltete er seine Flügel ganz zusammen und machte einen Schritt zurück.
Eric bewunderte die Geschmeidigkeit, die er trotz seiner Größe und des vermutlich hohen Gewichts besaß und traute sich kaum, den Kopf zu heben. Aber er überwand sich wieder. Er musste sich dieses Wesen unbedingt von allen Seiten ansehen. Der Drache folgte ihm mit dem Blick, als er ihn umrundete und legte sich schließlich hin. Der lange, starke Schwanz kroch wie eine riesige Schlange über das Eis auf Eric zu und bäumte sich ein Stück vor ihm auf, ermahnte ihn, nicht zu weit zu laufen. Er erkannte eine Art Spitze am Ende, welche glänzende, offensichtlich messerscharfe Kanten hatte und scheinbar eine Art Stachel verbarg.
»Bleib dicht bei mir. Es ist nicht viel Zeit.«
Eric hielt Abstand, als er die Zacken auf dem Schwanz erkannte. Sie waren so lang wie seine Hände, ihre Kanten sahen ebenfalls unglaublich scharf aus. Plötzlich stand der Drache auf und spannte die Flügel zu voller Größe aus, tat einen sanften Schlag und fächerte. Er streckte sich ausgiebig, als hätte er lange geschlafen. Erics Herz sprang ihm fast aus der Brust, er hatte die plötzliche Bewegung nicht erwartet und musste sich zusammenreißen, um normal weiter zu atmen. Offensichtlich war es dem Drachen völlig egal, von allen Seiten bestaunt zu werden. Er überwachte jeden Millimeter und jede Bewegung, beobachtete die Umgebung gezielt und hielt seine Nüstern in den Wind, als wäre etwas in der Nähe. Sein starker Hals war so beweglich, dass er Eric mühelos selbst dann hätte erwischen können, wenn der sich auf die Schwanzspitze gestellt hätte.
Eric stand wie in kleines Lebkuchenmännchen neben den riesigen Hinterbeinen des Drachen, hatte noch nie etwas derartig Kraftvolles gesehen und schauderte, als der Drache die unglaublichen Krallen erneut gegen jeden Widerstand ins Eis bohrte. Er schien die Kälte gern zu spüren. Im Zoo hatte Eric einmal neben einem ausgewachsenen Elefantenbullen gestanden und dessen Beine und Füße hatten ihm schon Angst gemacht. Wieder fühlte er sich klein und unbedeutend, was die lauernde Angst in den Untiefen seines Geistes noch weiter schürte. Seine riesigen, hautbespannten Flügel warfen einen noch blaueren Schatten durch die leicht transparenten Schuppen, von welchen sie dicht und fein bedeckt waren. Die Flügel erinnerten Eric entfernt an jene einer Fledermaus, nur so viel größer, dass der Vergleich lächerlich erschien. Er lief unter den gewaltigen Bauchmuskeln durch und flitzte auf die andere Seite. Es war wie ein Wunder. Der Drache blieb ruhig, ließ sich betrachten. Er schluckte, ihm wurde heiß. Dann fragte er vorsichtig:
»Darf … darf ich dich berühren?«
Das riesige Wesen sah ihn an und senkte den Kopf, der Ansatz eines Nickens. Eric streckte die Hand aus und berührte zögerlich die Stelle an den Vorderbeinen des Drachen, wo bei ihm ein Handgelenk gewesen wäre. Sofort spürte er ein Prickeln auf der Haut an seinem linken Handgelenk. Ein Schwall von Empfindungen überkam ihn. Temperatur, Oberflächenstruktur, eine Art Energie oder ein Gefühl von Lebendigkeit und Zeit. Er spürte sich selbst, durch sich selbst. Die Schuppen waren so unfassbar hart, dass Eric nicht verstehen konnte, wieso er nicht wie eine Ritterrüstung quietschte, wenn er sich bewegte. Und sie waren nicht so heiß, wie Eric erwartet hatte, eher angenehm kühl und doch strahlte das Tier mittlerweile eine derartige Hitze ab, dass Eric aus weiterer Entfernung wohl nur einen flimmernden großen Haufen erkannt hätte und bereits knöcheltief in einer warm dampfenden Pfütze stand. Er stellte sich wieder vor den Drachen, sah den Kopf weit oben auf sich hinuntersehen und versuchte zu begreifen, wie das sein konnte. Ihm war irgendwie klar, dass er sich selbst sah, als er fröstelnd die rechte Faust ballte und der Drache knurrend die Krallen seiner Rechten aus dem Eis zog und die Bewegung nachahmte. Aber wie? Mühevoll formulierte er eine Frage, völlig berauscht von der Situation.
»Wer bist du?«
Der Drache knurrte erneut, diesmal eher nachdenklich als drohend. Er begann, Eric mit langsamen, lautlosen Schritten zu umrunden, als ob er seine wehrlose, vor Angst erstarrte Beute studierte. Eric spürte eine fast hungrige Lust, als er den Drachen wie eine Schlange hinter sich fauchen hörte.
»Ich habe so lange auf diese Chance gewartet, so oft versucht, dich zu erwischen. Fast hätte ich es geschafft. Du bist es wirklich. Die andere Seite.«
In seiner Stimme lag eine Art Wut oder Gier, vielleicht auch Trauer, Eric war völlig unsicher und überfordert. Er wollte sich umdrehen, doch der Drache ließ ihn nicht, wirkte allein mit seiner Präsenz und seinem Blick so schwer auf ihn ein, dass Eric einfach stehenblieb und nur durch die Hitze spürte, dass das Wesen sich ihm von hinten näherte. Er wurde unruhig, erlaubte Eric mehr Bewegungsfreiheit, wirkte unentschlossen und plötzlich tatsächlich wütend.
»Ihr Gift hat es verhindert. Jedes Mal.«
Eric drehte sich langsam um und beobachtete, wie sich ein langer, spitzer Stachel aus der Schwanzspitze schob. Der Stachel war über einen halben Meter lang und kam glühend näher. Eric warf ihm einen irritierten Blick zu, wusste nicht, was er erwarten sollte. Wie ein eigenständiges Wesen glitt der Schwanz um ihn herum, drängte ihn immer näher an den Drachen heran, bis er schließlich direkt zwischen seinen Fängen stand.
»Komm näher. Wer bin ich? Ich bin du. Wer bist du?«
Der Stachel gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, als der Drache ihn direkt an Erics Hinterkopf führte.
»Du weißt es nicht. Ich weiß es nicht. Sieh dich an! Bist du ein Mensch?«
Eric wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Was war das für eine Frage? Erst in dem Moment wurde ihm klar, was die jeweils mögliche Antwort bedeutete, unter der Voraussetzung, dass der Drache ihm die Wahrheit zeigte. Ein Ja hieße, all dies wäre nicht real, da er nicht der Drache sein konnte, der ihn gerade an der Grenze zum Vertrauen bedrohte. Es wäre nur ein weiterer Traum, wenn auch realer als alles Bisherige. Ein Nein musste bedeuten, er wäre jene Kreatur, also kein Mensch. Was bedeuten musste, dass alles, was hinter ihm lag, entweder verkehrt oder nicht real war. Aber wie konnte dies nicht real sein? Noch während Eric das Nein im Hals stecken blieb, regte sich der Drache:
»So ist es. Nein. Deshalb all der Schmerz, die Angst. Weil du nicht weißt, wer du bist. Weil ich nicht weiß, wer ich bin. Das unbändige Verlangen nach Freiheit und Erinnerung. Nach Vergangenheit, Zeit. Nach der Aufgabe. Eingesperrt in einer Illusion. In einer Hülle aus Lügen und Dunkelheit. Woher kommen die Schritte in der Asche? Wo sollten sie enden? Wie kommt die Trennung zwischen dir und mir zustande? Warum sind wir nicht eins? Ich kenne die Antworten, ich spüre die Wahrheit und sehe die verborgenen Erinnerungen. Aber ich komme nicht ran. Etwas hält dich davon ab … Du bist nicht frei. Ich bin nicht frei. Du bist ich. Ihr Gift … du siehst nicht klar. Ich sehe nicht …«
Der Drache zog den Stachel zurück, wirkte irritiert über sein eigenes Handeln. Offenbar wollte er Eric weder verletzen noch wirklich bedrohen, doch sein Inneres war durchzogen von einer Art Schmerz oder Unwohlsein, es ließ ihn nicht klar denken. Sein Kopf hing direkt über Eric, als wollte er ihn gleich vom Eis schnappen. Eric spürte die verwirrte Erregung des Drachen. Sie war wie ein sich selbst verstärkendes Echo, welches zwischen ihm und dem Drachen, sich selbst, hin und her schoss und beide enorm zu stören begann. Etwas näherte sich. Er spürte eine unermessliche, völlig unbegreifliche Macht in sich selbst, der Drache schnaubte heiß und sah sich kurz um.
»Keine Zeit mehr. Siehst du, da kommt sie. Die Dunkelheit. Wehre dich gegen ihr Gift. Zeige keine Angst, du bist die Angst. Die Finsternis hat Angst vor dir. Sie blockiert dich, verbirgt deine wahre Zeit. Verzehre sie, ernähre dich von ihr. Ich wünschte, ich würde mich erinnern. Du wünschst dir, dich zu erinnern. Du bist ich. Warum sind wir getrennt? Ich werde einen Weg finden. Und dann werde ich sie alle töten.«
Ohne Vorwarnung warf der Drache den Kopf zurück und stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus, Eric sah in der Ferne den Vorsprung eines Eisberges abbrechen und krachend auf eine der Schollen fallen. Aus allen Richtungen näherte sich eine Art Dunkelheit, schwarz und genauso finster wie das, was in jedem Traum hinter ihm lag. Wie wallende Unwetterfronten, nur so unbeschreiblich dunkel, dass die Umgebung langsam zu verschwimmen drohte. Der Boden bebte, überall sprangen Risse auf und zerlegten ihre Umwelt in bizarre Splitter. Er drehte sich um, der Drache schien genau zu wissen, was gerade passierte.
»Erinnere dich an dein Feuer.