Die Hungrige Hexe. Cecille Ravencraft

Die Hungrige Hexe - Cecille Ravencraft


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Glück ist, dass du nur bis morgen warten musst. Und das ist wiederum Teil deines Pechs: Es ist erst morgen Vollmond. Also musst du noch warten.“

      „Wieso ist das wichtig?“

      „Man erntet, wenn der Mond voll ist und die Säfte hochsteigen.“

      „Was willst du denn ernten?“

      Sie kam näher, die schlanken Beine in den engen schwarzen Jeans schienen bis an die Decke zu reichen. Sie sah beinahe zärtlich auf ihn herab.

      „Weißt du das wirklich nicht, Luke?“

      Er wandte den Blick ab. Selbst am Anfang, in innigster Umarmung, hatte sie ihn nicht so angesehen wie jetzt. Und ihm dämmerte, dass sie ihn während der „Ernte“ sogar noch liebevoller ansehen würde.

      „Doch“, flüsterte er und eine Träne rann an seiner Wange herunter, „ich glaube schon.“

      Sie nickte langsam und wandte sich ab.

      „Halt!“, rief Luke, „warte!“ Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Er schauderte. Ihr Blick war geistesabwesend. Sie war wohl in Gedanken schon bei ganz anderen Sachen, von denen er lieber nichts wissen wollte.

      „Was ist denn noch?“

      „Warum ist dein Spiegelbild plötzlich verschwunden?“

      Sie stutzte kurz, dann lachte sie kurz und humorlos. „Ach, das! Tja, mein Spiegelbild konnte nur so lange in dieser Dimension existieren, bis ich wieder bei Bewusstsein war. Als ich wieder zu mir kam, musste sie zwangsläufig in den Spiegel zurück. Hat die geflucht! Geschimpft wie ein Rohrspatz! Du hättest sie hören sollen.“

      „Ach so. Dann war es ja mein Glück, dass du wieder wach geworden bist.“

      „Ja, Luke. Wieder Glück und Pech. Dein Glück, dass ich wieder wach wurde. Dein Pech, nach Ryan’s Field zu fahren. Dein Pech, dass du damals in meinen Wagen gestiegen bist. Dein Glück, dass du vor deinem Tod noch so viel Spaß haben durftest. Du siehst, Glück und Pech liegen nah beieinander.“

      Luke brach in Tränen aus. Dass sie so beiläufig über seinen Tod sprach, machte ihm unmissverständlich klar, dass er tatsächlich bald sterben würde.

      „Weine nicht, Luke. Vielleicht, wenn ich gute Laune habe, werde ich dafür sorgen, dass es für dich weitergeht. Es geht immer irgendwie weiter. Wer weiß, vielleicht hast du deine Schuld jetzt abgebüßt und darfst in diesen lächerlichen christlichen Himmel. Obwohl ich glaube, auch dein schrecklich qualvoller Tod wird dir keinen Zugang gewähren. Die wollen da oben keinen, der zwei siebzehnjährige Mädchen über Stunden vergewaltigt hat. Die wollen nur Heilige haben, Schafe, die nie gelebt und nie Spaß gehabt haben. Es muss schrecklich leer da oben sein. Sei froh, wenn du zur Hölle fährst, da unten ist ordentlich was los! Du wirst Menschen aus allen Schichten treffen. Ärzte, viele, viele Anwälte und Richter, also Leute aus den besten Familien. Hier würden die dich nicht mal mit dem Arsch angucken, aber dort unten hast du Zugang zu den höchsten Kreisen. Es wird dir gefallen!“

      „Du verdammte Schlampe“, schluchzte Luke besiegt. Das höhnische Lächeln auf Samiras Gesicht vertiefte sich. Dann wurde sie ernst.

      „Nein, wirklich Luke, wenn du dich beträgst und nicht die ganze Nacht um Hilfe brüllst, dann sorge ich dafür, dass du da vorerst noch nicht hin musst. Ich brauche meinen Schlaf, und es hört dich ohnehin niemand.“

      „Wieso sollte ich die ganze Nacht brüllen“, fragte Luke erschöpft. Ein fürchterlicher Kopfschmerz breitete sich in seiner Stirn aus.

      „Das tun sie immer. Alle.“ meinte Samira schlicht. Luke schluckte.

      Immer. Alle. Sie tat es tatsächlich regelmäßig. Der Boden im Garten war mit den Gebeinen seiner Vorgänger gedüngt. Aus ihnen wuchsen Blumen, Kräuter, Gemüse.

      „Überleg es dir, Luke. Für dich gibt es zwei Pfade, nachdem alles vorbei ist: Einer führt steil nach unten in eine Welt, in der sich keiner Gedanken macht, ob zu viel Heizen dem Klima schadet, und einer führt direkt zurück in ein neues Leben. Du bist der Einzige, dem ich das je angeboten habe.“

      „Warum?“, krächzte Luke.

      „Weil ich dich irgendwie mag. Und aus Respekt. Noch keiner hat es geschafft, mir zu entkommen. Das war mutig. Und gerissen, wie eine räudige, alte Ratte.“

      „Dann lass mich doch am Leben“, bettelte Luke.

      „Falsche Antwort.“ Ihre Stimme war jetzt kalt wie Eis. Sie wandte sich wieder ab.

      „Entschuldige! Okay! Ich werde brav sein“, quiekte er hastig. Samira sah ihn zwar nicht an, nickte aber leicht.

      „Bis morgen, Luke.“ Sie ging. Und ließ ihn allein.

      Die Nacht war das Gruseligste, das Luke je erlebt hatte. Dass er irgendwie weiterleben durfte, flößte ihm wieder etwas Hoffnung ein, aber trotzdem hatte er vor dem, was ihm wohl bevorstand, schreckliche Angst. Sein Herz stolperte in der Brust und Luke hoffte beinahe, dass es einfach stehen bleiben würde. Dass es Himmel und Hölle gab, stand jetzt absolut fest. Denn Samira und ihr teuflisches Spiegelbild waren eindeutig Wesen aus der Hölle. Dann gab es auch einen Himmel, einen Gott und somit Gnade. Luke betete, Speichel lief ihm aus dem Mund, er stotterte sich durch das Vaterunser und den Rosenkranz, aber das war so lange her, dass er lange Pausen brauchte, um es einigermaßen richtig zu machen. Einst war er Messdiener gewesen, hatte das alles aber schnell für Mist gehalten. Jetzt flehte er die himmlischen Mächte um Erbarmen an, fragte sich aber auch resigniert, ob sie ihm denn überhaupt Gehör schenken würden, wo er doch einen Deal mit der Hexe hatte.

      Um ihn herum war es Nacht geworden. Die Geschöpfe des Tages mochten Samiras Haus und Garten meiden, die der Nacht suchten ihre Nähe. Eulen schuhuten um ihn herum, es raschelte überall und irgendwo in nicht allzu großer Ferne heulte ein Wolf. Es war eiskalt geworden und Luke fror erbärmlich. Die Arme, vor allem die Schultern, schmerzten wegen der unnatürlichen und unbequemen Haltung, die die Ketten ihm aufzwangen. Jetzt wusste er, was sie mit Pech meinte, dass Pech, bis morgen warten zu müssen: ständig schlimmer werdenden Schmerzen, die Kälte und die schreckliche Verzweiflung, die wuchs und wuchs. Er weinte viel, betete, und zerrte ab und zu ohne große Hoffnung an den Ketten. Die Nacht wollte und wollte nicht enden.

      Endlich stieg die Sonne auf, und Luke sah mit tränenden Augen zu, wie sich der Himmel langsam rötlich färbte. Sein letzter Sonnenaufgang. Und er konnte ihn hier im Pavillon nicht einmal richtig sehen. Die letzte große Verarsche.

      Der Tag verging zäh, aber er fror nicht mehr so schrecklich und es war wenigstens hell. Irgendwann vormittags kam Samira zu ihm und wusch ihn von oben bis unten ab. Sie hatte einen Eimer mit einer duftenden Kräuterseife dabei, sie schrubbte gründlich und achtete nicht auf seine Schmerzenslaute, wenn der raue Schwamm seine Haut aufscheuerte. Dann rasierte sie ihn. Luke hielt zwar still, aber sie nahm auch hier keine große Rücksicht und grämte sich nicht, wenn die Klinge ihm die Haut zerschnitt. Sie rasierte wirklich alles und lachte, als er eine mächtige Erektion bekam. Luke errötete. Er fühlte sich zutiefst gedemütigt, ein Gefühl, das sich noch verstärkte, als sie auch Tiefen auslotete, die keine Rasierklinge je zu Gesicht bekommen sollte.

      „Du fühlst dich beinahe vergewaltigt, was, mein Schatz?“

      „Ja“, stieß Luke zähneknirschend hervor.

      „Dann denk dabei an das Mädchen, das du geschändet hast.“

      „Was bist du jetzt, ein Moralapostel? Gerade du?“

      „Nein, ach wo. Aber ich will, dass du leidest. Je stärker du leidest, desto besser ist das für mich. Leidest du, Luki-Maus?“

      „Du verdammtes Dreckstück! Scher dich zum- AH!“ Sie hatte die Klinge in die empfindlichste Stelle mit der dünnsten Haut gedrückt, dort, wo die Sonne niemals schien.

      „Vorsicht. Schon Konfuzius sagt: Beleidige niemals eine Hexe, die gerade deinen Arsch rasiert.“

      Luke schloss schmerzgepeinigt die Augen. Auch seine Handgelenke pochten vom Gezerre an den Handschellen.


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