Die Hungrige Hexe. Cecille Ravencraft

Die Hungrige Hexe - Cecille Ravencraft


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Aber die Hand, mit der sie jetzt das Betäubungsgewehr auf ihn richtete, war die Rechte. Wie interessant.

      Er erwartete den Knall und den Stich im Oberschenkel oder Po, als es plötzlich Plopp! machte und Samira verschwand. Das Betäubungsgewehr fiel auf den Beifahrersitz. Luke starrte dümmlich durch das geöffnete Fenster ins Innere. Das Spiegelbild war verschwunden! Vielleicht hatte er ja den Spruch falsch gesagt?

      „Ist ja auch egal“, knurrte er. „Nichts wie weg hier!“ Er stieg mühsam in den kleinen, niedrigen Wagen und fuhr geduckt davon. Bequem war es nicht, aber wenigstens hatte er jetzt einen fahrbaren Untersatz. Er würde in die Stadt zurückfahren, direkt zu seinem Bewährungshelfer. Bestimmt kam er wieder in den Knast, weil er sich dort seit Monaten nicht hatte sehen lassen, aber besser lebendig im Gefängnis sitzen, als weiter bei dieser Hexe unter Drogen gesetzt werden, die wer weiß was mit ihm vorhatte!

      „Doktor Roberts hat das mit deinem Bewährungshelfer schon geregelt, Luke“, hatte sie geflötet, „alles kein Problem! Er ist froh, dass du beim Programm mitmachen willst. Doktor Roberts wird mit dir hinfahren, wenn er kommt.“ Ja, und der Mond war aus grünem Stinkekäse!

      Luke gab Gas. Er hatte keine Ahnung, wo er hier war. Es standen nirgendwo Schilder und rechts und links gab es nur Wald. Aber im Moment war es egal. Weg, nur weit weg. Da kam er an eine Weggabelung, und endlich, nach fast einer halben Stunde Fahrt, sah er ein Schild. Na endlich!

      Ryan’s Field stand auf einem Schild mit einem Pfeil nach links darauf. Da fuhr Samira doch immer zum Einkaufen hin! Luke witterte eine Polizeistation, ein sicheres Gefängnis, bevor man ihn zurückverfrachtete, vielleicht hörte ihm sein Bewährungshelfer auch zu und veranlasste eine Durchsuchung von Samiras Haus. Das schwarze Zimmer sprach Bände, und die versteckten Drogen würden seine Geschichte bestätigen. Vielleicht musste er dann nicht mal zurück in den Knast. Auf jeden Fall gab es dort ein Telefon. Luke bog nach links ab und gab wieder Gas.

      Er weinte beinahe vor Erleichterung, als er in den kleinen Ort fuhr und mitten in der Stadt anhielt. Menschen, die rechts und links auf den Bürgersteigen spazierten, blieben stehen und starrten ihn an. Luke stieg ächzend aus dem Wagen und verrenkte sich dabei beinahe die Hüfte. Verdammt, wie war er vor drei Monaten nur in das winzige Gefährt hineingekommen?

      Er eilte auf eine Frau zu, die ein schwarzes Trägerkleid und eine weiße Bluse darunter trug. Sie sah ihn gebieterisch und kalt an. Noch bevor er nur in ihrer Nähe war, stellte sich eine andere Frau mutig davor, obwohl sie einen kleinen Jungen an der Hand hielt. Sie trug ein Sommerkleid, aber in Grau. Auch der Junge trug eine graue Hose und ein weißes T-Shirt.

      „Was wollen Sie“, verlangte die Frau im grauen Kleid zu wissen. Luke bemerkte verwirrt, dass alle Menschen auf den Bürgersteigen angehalten hatten. Auch aus den kleinen Läden kamen Frauen und Männer, und auch aus dem nur mittelgroßen Supermarkt strömten sie heraus. Alle trugen entweder graue oder schwarze Kleidung mit etwas Weißem kombiniert. Die in Grau traten jedoch sofort respektvoll beiseite, wenn jemand in Schwarz in ihre Nähe kam.

      „Ich brauche ein Telefon. Oder am besten Sie sagen mir, wie ich zur Polizei komme.“

      „Polizei?“ Die Frau öffnete den Mund zu einem abscheulichen Barrakuda-Lächeln, das Luke fatal an Samira erinnerte.

      „Ja, die Polizei. Ich wurde als Geisel gehalten. In einem Haus hier ganz in der Nähe.“ Luke wunderte sich, als die Leute um ihn herum plötzlich beinahe unisono ein erleichtertes Seufzen ausstießen und sich entspannten. Manche lächelten ihn sogar an. Die Frau in Schwarz schob die schützend vor ihr stehende energisch beiseite. Sofort verneigte sich die in Grau – und ihr kleiner Sohn tat es ihr sofort nach – und gab den Weg frei.

      Luke sah die Frau in Schwarz an. Auch die lächelte, kalt und herzlos. Sie war blond und völlig unscheinbar, sie benutzte nicht mal Make-up und trug das Haar in einem schlichten, unmodernen und strengen Knoten. Er ließ sie aussehen wie vierzig, aber sie schien eher Mitte zwanzig zu sein.

      „Ich bin Sandra Sun ... Hart. Mein Großvater ist der … der Bürgermeister dieser Stadt. Ich kenne dieses Auto. Was sagten Sie gerade, Sie wurden als Geisel gehalten?“

      Luke schluckte. Ihm schien es, als sei er vom Regen in die Traufe geraten. Sandra wechselte ihren altmodischen Flechtkorb mit den Einkäufen in die andere Hand. Das Trägerkleid erinnerte von der Strenge und dem hochgeschlossenen Kragen an die Kleidung einer Amish-Frau, aber die Kälte und der gebieterische Blick wollten so überhaupt nicht dazu passen. Irgendetwas war hier merkwürdig. Aber es umstanden ihn mindestens fünfzig Leute, und die in Grau waren während des Gesprächs zwischen ihm und Sandra unauffällig näher gekommen. Er konnte nirgendwohin flüchten. Vor Samiras Auto lauerten mindestens zehn Männer in grauen Hosen.

      „Äh, ja, wurde ich“, stammelte Luke nun nervös und warf ängstliche Blicke nach rechts und links. Er hatte so etwas mal in einem Film gesehen oder in einem Buch gelesen: Immer, wenn er nicht hinsah, rückten diese Leute anscheinend näher, ohne dass er die Bewegung irgendwie wahrgenommen hätte.

      „Dann sollten wir meinen Großvater sofort benachrichtigen.“ Sandra tat etwas, das so lächerlich schien, dass Luke beinahe laut losgelacht hätte: Sie zog ein hochmodernes Handy aus der Tasche ihres Kleides, das man nach einem Muster von anno dunnemals zusammengeschneidert hatte.

      „Das wird nicht nötig sein. Ich kenne ihn.“ Alle wandten sich um, als die Stimme ertönte. Luke wurde beinahe übel vor Erleichterung, dann aber fiel ihm das unheimliche Gespräch zwischen Samira und dem jungen Mann, der sich jetzt durch die Menge schob, wieder ein: William. Sandras Augen leuchteten auf und ihre Wangen röteten sich.

      „William! Oh, du kennst ihn also …?“

      „Ja, ich habe ihn bei Samira getroffen.“ Ein Murmeln ging durch die Menge.

      Sandra kicherte. „Dann ist er der Erste, der ihr entkommen ist! Das wird ihr ja gar nicht gefallen!“ Alle um sie herum brachen in schallendes, hämisches Gelächter aus. Luke spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er hätte einfach weiterfahren sollen. Jetzt saß er tief in der Scheiße. Die Menschen verfolgten jede seiner Bewegungen und der Ring um ihn herum war beinahe undurchdringlich geworden. Gierige Blicke trafen ihn, die er nicht verstand. Aber die Augen entbehrten zwei Dinge völlig: Mitgefühl und geistige Gesundheit. Sogar bei den Kindern. Ihn schauderte es heftig.

      „Wir sollten ihn zu ihr zurückbringen“, schlug William nun vor, „ich habe einen Deal mit Samira gemacht, der deinem Großvater gefallen dürfte.“

      „Oh, wirklich? In dem Fall …“ Sandra strahlte ihn an. Unter den Schwarzgewandeten erhob sich unzufriedenes Gemurmel. Scheinbar fanden sie es nicht gut, dass Sandra so offensichtlich in William verliebt war.

      William wandte sich um und kam wenig später mit einem klappernden Kastenwagen zurück. Er lehnte sich aus dem Fenster und sah Luke an. „Einsteigen“, befahl er kalt. Luke sah die anderen an. Die kamen drohend noch einen Schritt auf ihn zu. Er konnte schon die Wärme ihrer Körper fühlen und sah, wie sie die Zähne fletschten wie Raubtiere.

      Luke kletterte auf die Ladefläche und beschloss, gleich nach der Stadt abzuspringen. Selbst wenn er sich dabei ein Bein brach, was machte das schon? Sein Herz sank ihm in die Schuhe, als hinter ihm fünfzehn graugewandete Männer aufstiegen. Einer von ihnen rief etwas zu einem der Ladenbesitzer herüber, woraufhin der in seinen Verkaufsraum stürzte und wenig später mit einem Seil zurückkam. Sie fesselten Luke die Arme auf den Rücken. Dann zogen sie das Seil noch durch ein paar Ösen, die sonst der Befestigung der Ladung dienten, und banden ihn dicht am Boden fest. Sie gingen kein Risiko ein.

      Die Karre setzte sich schaukelnd in Bewegung. Hinter ihnen stieg eine der Frauen in Schwarz in Samiras Auto und fuhr hinterher.

      Zwanzig Minuten später, in denen die Männer um Luke herum fröhlich gelacht und geschwatzt hatten, bog der Konvoi in Samiras Einfahrt ab. Luke wurde hoch gezerrt und von der Ladefläche gestoßen. Unsanft fiel er in Samiras Rosenbeet und die Dornen stachen ihm schmerzhaft ins Gesicht und zerfetzten sein Hemd.

      Zwei Graue rissen ihn wieder hoch und schubsten ihn zurück in das Hexenhaus, das so nett aussah, aber so ein grässliches Geheimnis


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