Weihnachten? Um Gottes Willen!. Klaus Grammel

Weihnachten? Um Gottes Willen! - Klaus Grammel


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stillen Raum zurückgezogen, um meine Verse zu schmieden, und war gerade damit fertig geworden, als unsere jüngsten Enkelkinder, die beiden sechsjährigen Zwillingsschwestern, aufgekratzt laut singend durchs Haus zogen. Sie hatten sich jeder aus gelbem Bastelpapier eine Sonne ausgeschnitten, natürlich mit einem Smily-Gesicht, die sie sich vor ihren Kopf hielten. Ihr Gesang war eine herrliche, alberne Mischung zwischen Singen und Kreischen.

       Die Sonne fängt frühmorgens an,

       dann zieht sie weiter ihre Bahn.

       Spät abends legt sie sich zur Ruh.

       und nachts macht sie die Augen zu.

      Da war das bunte, verrückte, überbordende, lebendige Leben durch zwei aufgekratzte Schwestern in meine Gedankenwelt hineingeplatzt und hat mich daran erinnert, dass das Leben vor allem, zuerst und zuletzt, gelebt werden will und soll und, wenn wir nicht schon völlig verkopft sind, auch gelebt werden kann.

      Es war ohnehin Zeit, die beiden zu Bett zu bringen. Sie wünschten sich, dass Oma und Opa ihnen ein Gutenachtlied vorsingen sollten.

       Wer hat die schönsten Schäfchen?

       Die hat der goldne Mond ….

      Das Lied entfaltete seine Schlaf fördernde Macht nur sehr zögerlich. Aber nach einer Schlafgeschichte, die meine Frau und ich aus dem Lied heraus gesponnen hatten und nochmaligem Singen waren sie so weit, sich von dem Tag zu verabschieden, der noch so wunderbar lang für sie war, und sich der Ruhe der Nacht hinzugeben, geborgen in ihrem Bett und in der Liebe, die sie erfuhren.

      Wann fährt das nächste Sonnenschiff?

      Joelino hatte uns bald nach unserer Rückkehr aus Irland mal wieder besucht. Joelino ist unser neunzehnjähriger Enkelsohn aus Berlin. Wir spielten, wie wir es gerne taten, zusammen Mensch-ärgere-dich-nicht. Erstaunlich, was dieses einfache Spiel mit seinen ganz einfachen Regeln für eine Dramatik erzeugen kann. Spiegelt es das Leben wider? Jeder muss sehen, wo er bleibt? Der andere ist der Konkurrent, den man aus dem Weg räumen muss? Tut man es nicht, wird man „gepustet“, verliert also seinen Stein. Ist das Leben so? Muss es so sein? Sollte man ein Anti-Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel erfinden mit lebensfreundlicheren Regeln? Wäre das auch noch so spannend?

      „Ich brauche jetzt eine Fünf“, sagte Joelino und bekam sie. Mein einziger Stein, den ich draußen hatte, musste zurück ins Töpfchen. Joelinos Weg zum Ziel war frei.

      „Eine Drei wäre gut“, wünschte er sich ein paar Züge später. Wieder bekam er, was er brauchte. Wie machte er das? Da war kein Trick.

      Man möchte an magische Kräfte glauben. Ich küsste die Sechs, aber sie kam nicht, und ich konnte nur zusehen, wie meine beiden Mitspieler ohne mich ihr Spiel machten. Kurz vor dem Ende hatte ich zwei Steine drin, meine Frau drei, Joelino auch, aber sein Stein hatte noch einen weiten Weg bis zum Ziel, der meiner Frau stand vor dem Ziel. Sie brauchte nur noch eine Eins. Sie würde gewinnen. Da machte ich eine Sechs und kam raus, noch einmal eine Sechs und danach eine Drei und warf ihren Stein hinaus. Zurück ins Töpfchen. Der Blick meiner Frau sprach Bände. Joelino machte Sechsen und Fünfen hintereinander und kam rasch voran. „Jetzt noch eine Sechs und eine Drei“, wünschte er sich. Oder befahl er dem Würfel? Er machte sie und war wieder einmal Sieger.

      Es gibt keine Magie. Der Würfel ist nicht beeinflussbar. Er fällt, wie er fällt. Joelino hat auch nicht seine Seele einem Spielteufel verschrieben, der ihn dafür gewinnen lässt. Das alles ist unaufgeklärter Aberglaube. Aber ich kann nachvollziehen, dass man so etwas gedacht hat und dass unkritische Menschen womöglich noch immer so denken.

      Das ist auch ein Stück Religion. Religion, die sich in Beschwörung, Opfer, Magie, Riten und Ähnlichem zeigt, mit denen sie den Lauf des Lebens beeinflussen will. Diese Art von Religion ist etwas sehr Menschliches. Was hat man denn sonst der Zufälligkeit des Lebens entgegenzusetzen? Es fällt uns schwer, die Dinge anzunehmen, wie sie kommen und wie sie sind, die Ungerechtigkeiten des Lebens auszuhalten. Aber dieser religiöse Weg ist ein hilfloser Pseudoweg. Wir versprechen uns von ihm, was er gar nicht halten kann.

      Ich will die Ungerechtigkeiten des Lebens nicht einfach unbesehen aushalten, nehme ich mir vor, wieder einmal. Ich will sie wahrnehmen, ganz realistisch wahrnehmen. Ja. Aber dann will ich mich auch fragen, ob ich an dieser oder jener Stelle für mehr Gerechtigkeit sorgen kann. Nicht gegen Windmühlen kämpfen, aber verbessern, was veränderlich ist. Die Dinge nicht einfach nur passiv gelten lassen. Das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel lehrt mich doch auch, dass so das Leben nicht sein soll.

      Und noch etwas lehrt mich das Spiel. Meine Aggressionen rauszulassen. Sie kommen unweigerlich, weil ich mich wieder einmal wie so oft ungerecht behandelt fühle. Die anderen machen ihre Runden, und ich bin der Dumme. Hier beim Spielen kann ich meine Aggressionen ablassen, und indem ich mich zu ihnen bekenne und ihnen eine freie Bahn gebe, baue ich sie ab. Sie können in meinem realen Leben keine zerstörerische Rolle mehr spielen.

      Und das Spiel lehrt mich auch, was eine harte theologische Einsicht ist, die mir nicht leicht fällt: dass es Gottes Gerechtigkeit auf Erden nicht gibt. Es gibt sie nicht, die Mühlen Gottes, die zwar langsam, dafür aber vortrefflich fein mahlen und am Ende alles zu einem gerechten Ausgleich bringen.

      Nach dem Spielen kamen wir ins Gespräch über die Frage, welchen Sinn Religion hat oder noch haben kann, wenn uns heute die Wissenschaften aufklären über den vielfältigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung.

      „Wie siehst du das, Klaus?“, fragte mich Joelino, „Ihr wart doch in Newgrange gewesen. Ich habe gelesen, welche Bedeutung dieser Ort und andere Sonnenkultorte einmal hatten. Hat die Wissenschaft dem Sonnenkult den Garaus gemacht?“

      „Wenn Religion nur erklären will, wie etwas ist, dann brauchen wir sie nicht mehr“, behauptete ich. „Das hat sie früher, als Wissenschaft und Religion noch eins waren, gemacht. Mehr schlecht als recht. Aber immerhin, sie hat Erklärungen geliefert. Das macht die Wissenschaft, seit es sie gibt, ich meine: seit man mit der Vernunft nach Gründen fragt, viel besser. Also, wenn du wissen willst, wie alles entstanden ist, wie es sich mit der Sonne und der Erde verhält, wie sich das Leben hier auf Erden entwickelt hat, am Ende der Mensch – dann frage den Wissenschaftler, vor allem den Naturwissenschaftler, nicht den Theologen.“

      „Wenn die Religion für dich gar nicht mehr zuständig ist für Erklärungen von historischen oder naturwissenschaftlichen Geschehnissen, dann gibt es zwischen beiden auch keine Konkurrenz?“

       Joelino sah mich gespannt an. Er erwartete eine klare Antwort.

      „Richtig. Wenn sich mit wissenschaftlichen Gründen behaupten lässt, dass, um ein Beispiel zu nennen, Jesus nicht am 25. Dezember geboren wurde, und auch nicht im Jahre 1, dann ist es nur peinlich, wenn ein Pfarrer seine überlieferte kirchliche Tradition dagegen hält und verlangt, man solle an sie glauben. Und ebenso ist es peinlich, wenn er die Frage in der Schwebe lässt, weil sich alles nie so ganz erklären ließe, und damit suggeriert, die Bibel hätte doch Recht.“

      „Wozu soll denn aber Religion noch gut sein, wenn sie nicht mehr erklären darf?“, hakte Joelino nach.

      „Was heißt darf? Ihre Erklärungen taugen einfach nichts mehr“, behauptete ich. „Antike Mythologien sind nicht mehr beweiskräftig, seit die Wissenschaften uns überzeugendere Gründe bieten. Aber ein Mythos wollte doch nie nur erklären. Er wollte immer mehr. Und ich denke, dass das, was er mehr wollte, sogar seine hauptsächliche Absicht war.“

      „Und was soll das sein? Was soll es denn über Erklärungen hinaus noch geben?“

      Wenn mein Enkelsohn so fragt, ging mir in diesem Moment auf, fragt er voll und ganz als ein Kind unserer wissenschaftsgläubigen Zeit. Er fragt so, als könne und müsse die Wissenschaft für alles und immer und endgültig zuständig sein. Natürlich darf und soll sie alles hinterfragen. Aber mit ihrer Fragestellung kann sie nur herausbekommen, was sich in ihrem Raster einfangen lässt. Sie fragt und forscht und entdeckt und probiert eine Antwort und fragt wieder und forscht und so fort. Und was sie da herausbekommt, hilft uns weiter, auch wenn,


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