Weihnachten? Um Gottes Willen!. Klaus Grammel
zu sehen. Und irgendwann kommen wieder andere und stoßen das Bisherige um, weil sie es noch besser wissen. Jede Antwort gebiert neue Fragen.
Aber die Wissenschaft lehrt mich doch nicht, mit meinem Leben klarzukommen. Sie stellt fest, aber sie sagt mir doch nicht, wie ich mich verhalten soll. Das aber macht doch mein Leben aus, dass ich frage, was ich tun soll, worauf ich hoffen darf, was das alles mit mir und den anderen hier auf Erden überhaupt soll. Was bedeuten mir Liebe, Schuld, Vergebung? Wie bekomme ich Zuversicht ins Leben? Was lässt mich geborgen sein mitten in den Schwierigkeiten des Lebens?
Wenn es darum geht, kann man nicht, wie die Wissenschaft es tut, in Zahlen, Formeln und Daten reden. Dann braucht man Bilder, Symbole, Gleichnisse, Metaphern, Anspielungen, poetische Übertreibungen und Ähnliches, was sich alles nicht exakt definieren lässt. Das ist für mich eine religiöse Sprache. In ihr reden auch die Künstler, alle, die vom Leben bewegt sind. Die Frage nach dem, was das Leben ausmacht und wie es gelebt werden kann und soll – das ist für mich im Tiefsten Religion, Religion in einem sehr positiven Sinn. Religion in diesem Sinne ist eine andere Wahrnehmung unserer Wirklichkeit, als sie die Wissenschaft bietet. Man kann nicht sagen, dass sie eine falsche oder eine überflüssige Wahrnehmung ist.
„Joelino“, versuchte ich zu erklären, „wenn die Tage dunkler und kälter wurden, ist die Frage, warum das so ist, doch noch gar nicht die eigentlich gemeinte Frage. Die lautet vielmehr: Habe ich noch eine Chance? Darf ich hoffen, dass mein Leben, das Leben überhaupt, in diesem Kampf zwischen Dunkelheit und Licht nicht auf der Strecke bleibt?
Die Menschen früher werden sich doch besorgt gefragt haben:
Was, wenn die Sonne im Winter stirbt und nie mehr wiederkommt? Schaut doch mal zum Himmel. Von Woche zu Woche verliert sie an Kraft. Jetzt ist sie nur noch kurze Zeit zu sehen. Und blass und klein ist sie auch. Und oft versteckt sie sich hinter dichten Wolken und Schnee, wie ein Sterbender sich in seine Ecke zurückzieht und nicht mehr gesehen werden will.
Der Mythos, den die Schamanen, also Menschen mit spirituellen, magischen, auch hellseherischen oder medizinischen Fähigkeiten, damals den Menschen erzählt haben, war wesentlich Tröstung der Verzagten, Ermutigung der Zweifelnden, Aufmunterung der Unsicheren. Es war nicht einfach nur Erklärung dafür, dass, wie die Erfahrung jedes Jahr zeigt, die Sonne immer wieder an Kraft gewinnt.“
„Welcher Mythos wurde eigentlich erzählt“, wollte meine Frau wissen.
„Dass tief im Innern der Erde ein neues Sonnenkind geboren wird. Die längste Nacht ist geweiht, ist eine Heilige Nacht, denn es ist die Nacht der Geburt der neuen Sonne“, sagte ich. „Darf ich euch ein paar Verse vorlesen, mit denen ich mir die Weihnacht von Newgrange deutlich gemacht habe?“
Beide nickten. Ich ging in mein Arbeitszimmer und holte mein Notizbuch und las:
„Nebelige Nässe. Widrige Winde.
Alles ist grau und voll Grauen, ist tot.
Klirrende Kälte. Düsternis. Dunkel.
Lang sind die Nächte. Es wächst uns kein Brot.
Komm, Schamane, erzähl uns vom Leben,
Nicht das, das war. Das, was kommt, kommen muss!
Oder sind wir für immer verloren?
Ist da kein Weg mehr nach vorn? Ist nun Schluss?
Tief unter‘m Schnee im Innern der Erde
liegt in der Nacht, die so lang ist wie nie,
die Mutter Sonne in Wehen. Geboren
wird neu ihr Sonnenkind, klein noch, doch sie
gibt ihm Kraft, es wird wachsen und wachsen,
zunehmen wird es an Macht und Gestalt.
Und dann blüht dir wieder ein Leben.
Fürchte dich nicht. Trau ihrer Gewalt.“
„Das haben die Menschen damals geglaubt?“ Meine Frau war skeptisch.
„Das hättest du auch geglaubt. Es war ja immerhin eine Erklärung.“
„Aber die stimmt doch nicht.“
„Ja, aber sie wussten es nicht besser“, sagte ich. „Wir heute wissen es besser. Übrigens das, was sich im Großen einmal im Jahr abspielt, geschieht durchaus vergleichbar in kleiner Weise jeden Tag, wenn die Sonne im Westen untergeht. Wird sie am nächsten Morgen wieder im Osten erscheinen?“
„Aber das wussten die Leute doch, dass sie am nächsten Morgen wieder aufgeht?“, warf meine Frau ein.
„Dass auf den Winter der Frühling kommt, wussten sie auch. Aus Erfahrung“, warf Joelino ein.
„Ja, aber kannst du dich immer auf deine Erfahrung verlassen?“, gab ich zu bedenken. „Man brauchte Vergewisserung. Man wollte wissen, warum das so ist, wie es ist, damit man sicher sein kann, dass es morgen und übermorgen und alle Tage auch noch so ist.“
„Wie haben die Leute sich das erklärt, dass die Sonne im Westen untergeht und morgens im Osten wieder da ist?“, wollte meine Frau wissen. Die alten Mythen schienen sie zu interessieren.
„Die einfachen Leute konnten es sich gar nicht erklären. Aber die Schamanen verfügten über die alten weisen Traditionen, die eine Antwort gaben. Sie werden etwa Folgendes gesagt haben:
Die Sonne geht unter, gewiss. Das macht euch Angst. Aber seid gewiss: Sie kommt wieder. Sie wird nie endgültig untergehen. Wenn sie im Westen am Himmel verschwindet, nimmt sie ein Fisch in Empfang und bringt sie zum Sonnenschiff. Das fährt auf dem Urmeer der Unterwelt nach Osten, wo eine Schlange sie empfängt und zum Sonnenwagen geleitet. Dann beginnt sie wieder ihre tägliche Fahrt über den Himmel. Du kannst ihr vertrauen!“
„Nachtverkehr. Ein Schiff. Zuverlässig. Pünktlich. Und das ohne Fahrplan!“ Joelino amüsierte sich.
„Als Erklärung taugt das nicht mehr, weil wir es inzwischen besser wissen. So ein Transportschiff gibt es natürlich nicht. Hat es auch nie gegeben. Aber …“
Bevor ich dazu kam, mein mir so wichtiges „Aber“ zu erläutern, fiel mir Joelino ins Wort: „Wenn das mit dem Sonnenschiff nicht stimmt, dann darf der Priester das auch nicht sagen! Sonst betrügt er die Menschen.“
„Natürlich war für den Priester solch ein Sonnenschiff wirklich vorhanden“, warf ich ein. „Wir wissen heute, dass das ein Irrtum war. Aber viel wichtiger ist doch die Frage, was der Schamane eigentlich vermittelte, wenn er einem von seinen Ängsten geplagten Menschen von solch einem Boot erzählt hat? Versteht ihr?“
Joelino und meine Frau schauten mich skeptisch an.
„Er hat seinem verunsicherten Zuhörer doch Mut verschafft. Er hat ihm vermittelt, dass es eine Ordnung gibt, auf die Verlass ist. Dass er Vertrauen wagen darf ins Leben. Dass er nicht alles selber machen und nicht alles selbst in der Hand haben muss, damit es gut wird im Leben. Dass er sich ruhig zur Nacht niederlegen kann und ganz gewiss darauf vertrauen kann, dass morgen für ihn neu die Sonne aufgehen wird. Traue dem Leben zu, dass es dir gut tut. Mach dir dein Leben nicht kaputt durch dein Bestreben nach Sicherheit. Das hat er seinem ängstlichen Zeitgenossen doch in Wahrheit gesagt … und sich selbst wohl auch ein bisschen.“
„Man darf doch nicht trösten mit etwas, was gar nicht stimmt.“ Ich sah Joelino an. „Definitiv nicht!“, fügte er hinzu.
„Joelino, als wir in Dublin waren, haben wir Maya und Elisa, die etwas aufgekratzt waren, ins Bett gebracht und ihnen ein Schlaflied gesungen, Nori und ich. Wir haben davon gesungen, dass der Mond da oben wohnt, ein Haus hat und abends aus seinem Haus heraustritt und sich seine Schäfchen ansieht. Das sind die