Weihnachten? Um Gottes Willen!. Klaus Grammel

Weihnachten? Um Gottes Willen! - Klaus Grammel


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      „Nichts von dem, was wir dort im Lied gesungen haben, stimmt, naturwissenschaftlich gesehen. Ist doch richtig?“

      Er nickte.

      „Haben wir die beiden Zwillingsschwestern also betrogen? Richtig betrogen, denn den Schamanen kann man ja noch entschuldigen. Der wusste es ja nicht besser. Aber Nori und ich wissen es besser. Und trotzdem haben wir dieses Lied gesungen und damit Dinge behauptet, die doch gar nicht stimmen.“

      „Die beiden sind noch klein, da …“ er führte den Satz nicht zu Ende.

      „Haben Kinder kein Recht auf Wahrheit?“, halte ich dagegen. „Was wir gesungen haben, war falsch. Aber was wir mithilfe eines falschen Liedes vermittelt haben, war wahr. Denn die Geborgenheit, die wir ihnen aufgezeigt haben, war nicht gespielt, vorgetäuscht, nur behauptet. Die war so echt, wie unsere Liebe zu den beiden echt ist. Der Wissenschaft geht es um Richtigkeiten. Das ist aber nur ein Aspekt im Leben.“

      Mir kam eine Idee. „Leonore und Joelino, macht doch mal bitte beide eure Augen zu. Stellt euch einen wunderschönen Sonnenuntergang vor. Seht ihn mit eurem inneren Auge. Okay?“

      Beide schlossen ihre Augen. Ich wartete einen Moment. Dann fragte ich sie: „Was ihr euch jetzt vorstellt, findet ihr das schön?“

      Sie nickten.

      „Fühlt ihr euch dabei wohl?“

      „Ja“. Meine Frau fügte noch hinzu: „Sehr sogar.“

      „Lasst die Augen noch geschlossen. Der Sonnenuntergang in euren Köpfen ist schön. Fast wie ein echter, stimmt‘s?“

      „Hm.“

      „Und Ihr wisst doch, dass das alles nur eine optische Täuschung ist!“, sage ich extra laut und hart. „Dass das alles gar nicht so ist, wie ihr denkt.“

      Beide rissen die Augen auf, enttäuscht und, wie es mir schien, verärgert.

      „Stimmt doch!“, sagte ich. „Durch die Erdrotation entsteht der Eindruck, die Sonne würde etwas machen, was sie gar nicht tut; noch dazu gehen, untergehen, wozu man ja Beine bräuchte. Ihr merkt, wie wir in Bildern reden, reden müssen, selbst das Wort Sonnenuntergang ist nicht exakt. Er ist doch nur ein Eindruck, der in uns entsteht, weil die Erde, auf der wir stehen, sich sozusagen nach hinten wegbewegt. Frage: Das, was ihr über die Erdbewegung wisst – nimmt euch das den Zauber, den ein Sonnenuntergang für euch hat?“

      Sie schwiegen.

      „Nein“, sagte Joelino.

      „Nein, der Sonnenuntergang ist trotzdem schön“, sagte meine Frau.

      „Aber ich bin ein Schuft, denn ich habe euch betrogen!“, behauptete ich grinsend.

      Die beiden lachten mich verlegen an.

      „Mir geht es ja genau wie euch“, sagte ich beschwichtigend. „Das, was sich da am Abendhimmel abspielt, kann ich erklären. Aber diese Erklärung betrifft sozusagen nur die Außenseite der ganzen Sache. Nicht, wie sie mich betrifft und was sie mit mir macht, was sie mir bedeutet, wozu sie mich führt.

      Joelino, manchmal werde ich ganz still, wenn ich in die untergehende Sonne schaue. Am Strand von Hiddensee, jeden Sommer. Leonore weiß das, weil sie ähnlich empfindet. Dann werde ich mir meiner Kleinheit und Unzulänglichkeit bewusst. Und doch kann ich solch einen Moment annehmen, wie ich ihn empfinde, weil ich ein Teil der großen Schöpfung bin. Ich bin dann sehr glücklich. Und manchmal, wenn die Sonne im Meer versinkt und der ganze weite Himmel ein einziges Farberlebnis ist, dann nimmt mich der Zauber des Lichtes und der Farben hinein in das Wunder, dass es das alles gibt und dass ich das erlebe. Dann möchte ich vor lauter Glück aus mir hinausplatzen.“

      Nach dem Abendbrot sprach mich Joelino noch einmal auf das Problem der Religion an. „Was du unter Religion verstehst, ist nicht ganz eindeutig. Kann das stimmen?“

      Der Junge hat Recht, sagte ich zu mir. Hat er das durchschaut? Aber ich fragte doch erst einmal „Wieso?“

      „Mal schillert der Begriff bei dir ins Negative, bei Magie, Beschwörung und solchen Begriffen. Bei den großen religiösen Institutionen könnte ich mir das bei dir auch vorstellen: Kirchen, Moscheen, Vatikan und so etwas. Stimmt´s?“

      Ich schaukelte leicht meinen Kopf, dann sagte ich zögernd „Jaaa.“

      „Und dann wieder“, fuhr mein Enkelsohn fort, „hat Religion bei dir einen ganz positiven Klang, ist geradezu ein Zeichen unseres menschlichen Lebens, nein, das Zeichen. Menschliches Leben scheint mir in deinen Augen notwendigerweise religiös zu sein.“

      „Du hast gut zugehört, vorhin. In der Tat. Das Phänomen Religion ist sehr komplex und man muss immer deutlich machen, auch durch den Zusammenhang, wie man das Wort gerade gebraucht.“ Ich nickte ihm bestätigend zu. „Mit einer einfachen Definition wird man das Phänomen Religion nicht packen können. – Aber Joelino“, setzte ich nach einer kleinen Pause noch einmal ein, „eine Seite der Religion hast du noch vergessen.“

      „Welche?“ wollte er wissen.

      „Die aufklärerische Seite. Ich halte die Aufklärung, die Säkularisation, das Mündigwerden der Welt für eine Folge des biblischen Glaubens. Nicht für seine Infragestellung. Die Befreiung der Welt aus ihrem Aberglauben, ihren manchmal geradezu dämonischen Ängsten, ihren Blockierungen, all dieses sehe ich in der Bibel angelegt. Die Bibel betreibt Aufklärung! Neben all dem, was (leider!) sehr unaufgeklärt auch in ihr steht, wie ich zugeben muss.“

      Ich erntete einen überraschten und ungläubigen Blick.

      „Ich versuche, dir das an einem Beispiel zu verdeutlichen. Die Erde, unsere konkrete Welt, mit allem, was dazugehört, Sonne, Mond und Sterne, ist nach biblischer Sicht ein wunderbarer Ort zum Leben, aber sie soll nicht vergöttert werden. Sie ist nicht Gott, sondern nur sein Werk. Das gilt natürlich auch für die Sonne. Sie ist nur eine große Lampe für den Tag, so, wie der Mond eine kleine Lampe ist für die Nacht. Damit setzt die biblische Religion eine kritische Distanz zu allem. Mit ihr ist der Vergöttlichung von irgendetwas Weltlichem nicht zu machen. Die Gestirne sind keine Götter und die römischen Kaiser oder Hitler oder Stalin erst recht nicht. Alles ist Schöpfung, nicht Gott. Alles verdient Respekt, Achtung, Ehrfurcht, Staunen und ein liebevolles, achtsames Umgehen, aber keine religiöse Überhöhung. Deshalb schreibt ein Jude, in Babylon (!), wo man die Dinge ganz anders sah und wo die Juden gefangen waren: Lasst euch nicht dazu verleiten, Sonne, Mond und Sterne als Götter zu verehren. (5. Buch Mose 4,19). Das war ein Satz, mit dem man damals seinen babylonischen Herren widerstand und sich seiner gewiss wurde als ein freier Mensch, frei noch als Zwangsarbeiter in der Fremde.“

      Ein Geschenk, das ich nicht haben wollte

      Am Nikolaustag hatte mich Leonore so beiläufig nach einem Päckchen gefragt, das man mir anvertraut hatte. Ich hatte damals ein Gespräch darüber vermieden, weil es mir lästig erschien, doch so langsam musste ich mich darum kümmern.

      Mitte Oktober hatte ich das Päckchen erhalten, das mir ein längst vergessener Studienkollege zugeschickt hatte. Nicht, dass ich darauf besonders neugierig gewesen wäre. Mehr aus Pflichtgefühl hatte ich mich einverstanden erklärt, es in Empfang zu nehmen.

      Er hatte mich angerufen und wollte wissen, ob ich mich noch an ihn erinnere: Sommersemester Göttingen 59. Als er sagte, dass wir zwei- oder dreimal in denselben Seminaren gesessen und viel miteinander diskutiert hätten, und als er beschrieb, wie er damals ausgesehen hatte und mir seinen Namen nannte, Falk Schäfer, da dämmerte es mir langsam. Ja, wir hatten öfters miteinander diskutiert, das stimmt, aber irgendwie muss es unfruchtbar gewesen sein. Jedenfalls tauchte in meiner vagen Erinnerung ein unbefriedigendes Gefühl auf.

      Und dann fiel es mir wieder ein. Es ging einmal um die Gottesfrage. Was man von den Beweisen seiner Existenz halten sollte. Seit ich den Philosophen Kant zu diesem Problem gelesen hatte, war mir klar: gar nichts! Mein Kommilitone hatte das ganz anders gesehen. „Gott ist ein wissenschaftliches Problem“, hatte er gemeint, „und


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