Kraftverkehrs-Haftpflicht-Schäden. Kurt E. Böhme
Ein Fahrer, der sein Fahrzeug anhält und Kinder bis zu etwa 12 Jahren durch ein Handzeichen auffordert, die Fahrbahn zu überqueren, verzichtet nicht nur auf sein Vorfahrtsrecht, sondern übernimmt auch die Garantie, dass die Kinder die übrigen Fahrspuren gefahrlos überqueren können.[489]
Ein Fahrer hat gegenüber dem alleinschuldigen Unfallopfer jedenfalls dann eine Garantenstellung, wenn er sich vorher verkehrswidrig verhalten hat und dieses Verhalten in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unfall stand.[490]
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Das Gefahrenzeichen 136 (Kinder) zu § 40 Abs. 6 StVO (Anlage zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO) weist den Fahrer grundsätzlich ohne zeitliche Einschränkung darauf hin, dass er mit plötzlichem Betreten der Fahrbahn durch Kinder zu rechnen hat. Er muss sich wie bei einer konkreten Gefahrenlage durch Bremsbereitschaft und erforderlichenfalls durch Reduzierung der Geschwindigkeit hierauf einstellen.[491] Rückwärtsfahren ist auf das unbedingt Notwendige zu beschränken, auch wenn die Anwesenheit von Kindern nicht zu erkennen ist.[492]
Die gleiche Sorgfaltspflicht obliegt dem Fahrer in Nähe eines Kindergartens.[493]
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Sind spielende Kinder erkennbar und ist die Sicht durch beiderseits parkende Fahrzeuge behindert, so darf nicht schneller als 30 km/h gefahren werden.[494] Besondere Aufmerksamkeit ist immer dann geboten, wenn Kinder, die für den Fahrer erkennbar durch Spiel, Herumtoben oder Neckereien in ihrer Aufmerksamkeit abgelenkt sind, die Fahrbahn überschreiten.[495] Dies gilt insbesondere dann, wenn Kinder in der Nähe der Fahrbahn Rollschuh fahren. So trifft eine 11-Jährige, die auf Rollschuhen eine wenig befahrene Dorfstraße überquert und dort von einem mit 70 km/h fahrenden Kfz erfasst wird, ein Mitverschulden von nur 20 %.[496] Bei Roller oder Rad fahrenden Kindern muss der Fahrer sofort reagieren.[497] Den Fahrer trifft eine Beobachtungspflicht, wenn ein spielendes Kind sich in erkennbarer Nähe des Kfz befindet.[498]
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Kinderfahrräder sind nicht als Fahrzeuge im Sinne der StVO anzusehen (§ 24 Abs. 1 StVO) und deshalb nicht vorfahrtsberechtigt.[499]
Kinder bis zum vollendeten achten Lebensjahr sind von der Fahrbahn und vom Radweg ausgeschlossen und müssen den rechten oder linken Gehweg benutzen, und zwar in beiden Richtungen.[500] Kinder zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr dürfen nach § 2 Abs. 5 StVO auf Gehwegen Rad fahren, können aber wahlweise auch die Fahrbahn oder Radwege benutzen. Kinder über 10 Jahren dürfen Gehwege nicht befahren, es sei denn sie benutzen ein Kinderfahrrad i.S.v. § 24 Abs. 1 StVO.[501] Befahren Kinder mit Fahrrädern einen engen Gehweg, muss der Fahrer mit Abkommen auf die Fahrbahn rechnen. Bleibt die Ursache für dieses Abkommen unaufgeklärt, haftet der Fahrer zu 100 %.[502] Benutzen Kinder die Fahrbahn, muss der Fahrer Fehlverhalten in Erwägung ziehen, so z.B. Nichtanzeige einer Fahrtrichtungsänderung, Spurwechsel und dergleichen. Der Fahrer muss gegenüber Kindern das Äußerste an Sorgfalt aufbieten.[503] Fährt ein 13-jähriger Schüler außerhalb geschlossener Ortschaft aus einer Grundstücksausfahrt in die Kreisstraße ein, so ist der Unfall für den Fahrer nach altem Schadenersatzrecht unabwendbar, wenn er das Kind erst spät sehen konnte.[504] Beim Vorbeifahren an einem entgegenkommenden Kind ist ein Abstand von mindestens 2 m einzuhalten, sonst volle Haftung.[505] Hatte der Fahrer vor Überholen einer 12-Jährigen gehupt und 2 m Seitenabstand, so haftet er nur nach StVG.[506] Der Nachweis eines Verschuldens eines Fahrers für den Zusammenstoß mit einem Kind, das ein Fahrrad schiebend die Straße überqueren will, ist nicht geführt, wenn nicht feststeht, aus welcher Entfernung er das Kind zum ersten Mal sehen konnte.[507] Andererseits ist auch von einem elfeinhalbjährigen Kind zu erwarten, dass es nicht ohne Beachtung des fließenden Verkehrs auf seinem Fahrrad einen Zebrastreifen überquert.[508]
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Unfälle an Schulbushaltestellen s. Rn. 245 f.
b) Sorgfaltspflichten der Eltern und „Dritter“
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Wird ein Kind verletzt, so haben die Eltern nach § 1664 BGB nur für die Sorgfalt einzustehen, die sie in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegen, i.d.R. haften sie also nur bei grober Fahrlässigkeit (§ 277 BGB). Die Haftung der Eltern tritt demnach nur ein, wenn deren Verhalten als gänzlich „unverantwortbar“ anzusehen ist.[509]
Dieses Haftungsprivileg der Eltern gilt jedoch ausnahmsweise insbesondere dann nicht, wenn ein Elternteil als Fahrer das z.B. im eigenen Fahrzeug beförderte Kind schädigt, d.h. hier haftet der Elternteil auch bei leichtem Verschulden gegenüber dem Kind.[510] Nach Inkrafttreten des 2. Schadenrechtsänderungsgesetzes noch nicht aktuell höchstrichterlich entschieden und umstritten ist die Frage, ob das Haftungsprivileg der §§ 1664, 277 BGB auch eine Gefährdungshaftung der Eltern als Halter des schädigenden Familienfahrzeugs ausschließt.[511] Nach hier vertretener Auffassung schließt die Haftungsprivilegierung auch nach Inkrafttreten des 2. Schadenrechtsänderungsgesetzes die Halterhaftung der Eltern gegenüber dem Kind aus. Denn die Verletzung des Kindes – z.B. als Insasse im elterlichen Fahrzeug anlässlich eines gemeinsamen Familienausflugs – resultiert in diesen Fällen regelmäßig daraus, dass sich Gefahren des Fahrzeugs im Straßenverkehr realisiert haben und nach Wertung des § 7 StVG der Halter des Fahrzeugs für diese Gefahren einstehen soll und zwar gleichgültig, ob ein Dritter oder ein Familienangehöriger geschädigt wird. Handelt es sich dagegen um einen Fall, in dem sich das Fehlverhalten der Eltern auf eine allgemeine Aufsichtsverletzung beschränkt, bleibt es bei dem Haftungsmaßstab der §§ 1664, 277 BGB.
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Dieser Verschuldensmaßstab ist auch dann anzuwenden, wenn es um die Frage der Gesamtschuldnerschaft zwischen Eltern und unfallbeteiligten Dritten geht.[512] Ist der Unfall sowohl auf „Verschulden“ des beteiligten Fahrers als auch auf grobfahrlässige Verletzung der elterlichen Aufsichtspflicht zurückzuführen, kann das Kind wegen des gesamten Schadens den beteiligten Fahrer in Anspruch nehmen.[513] Der Schadensersatzanspruch des Kindes geht auch bei grober Fahrlässigkeit der Eltern nur in Höhe des Haftungsanteils des Fahrers nach § 116 SGB X auf seinen SVT über.
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Der Umfang der elterlichen Aufsichtspflicht bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie nach dem Grad der Voraussehbarkeit des schädigenden Verhaltens des Kindes und dem Grad des für die Eltern Zumutbaren. Bei einem zweieinhalbjährigen Kind ist stets damit zu rechnen, dass es unvermittelt und ohne Grund auf die Straße läuft.[514] Die Eltern sind jedoch nicht verpflichtet, ein zweijähriges Kind ständig an der Hand zu halten.[515] Die Eltern verletzen ihre Aufsichtspflicht ebenfalls nicht, wenn sie ein acht Jahre altes Kind, das sich über einen gewissen Zeitraum im Straßenverkehr bewährt hat, mit einem Fahrrad am Straßenverkehr teilnehmen lassen.[516] Ebenso nicht, wenn sie die Aufsicht über ein vierjähriges Kind der zehnjährigen Tochter übertragen.[517] Bei einem deutlich verhaltensgestörten Kind sind engere Maßstäbe anzulegen.[518]
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Ist für die Verletzung des Kindes sowohl der Fahrer als auch ein vertraglich zur Aufsicht Verpflichteter verantwortlich, so haften sie dem Kind als Gesamtschuldner.[519] Eine solche Haftung kann angenommen werden, wenn es sich um eine weitreichende Obhut von längerer Dauer handelt (Pflegeeltern, Kindermädchen, Kindergärtnerinnen, Aufsichts- und Erziehungspersonal in Heimen oder bei längerem Aufenthalt bei Verwandten).[520]
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Zerkratzt ein nicht deliktsfähiges Kind (unter 7 Jahre) mit Steinen, Nägeln etc. Autos, kommt eine Haftung der aufsichtspflichtigen Eltern