Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
Staatsangehörigkeit das zwischenstaatliche Auslieferungsverbot nach Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG zu beachten ist und daher der Staat selbst die Bestrafung übernehmen muss.[124] Deswegen wird die Neubürgerklausel zutreffend als Ausformung des Prinzips der stellvertretenden Strafrechtspflege angesehen.[125] Die nachträgliche Begründung der Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts erscheint zwar im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG nicht unbedenklich.[126] Dem soll aber dadurch abgeholfen werden können, den Täter jedenfalls nicht härter zu bestrafen als nach dem Recht des Tatorts.[127] Verliert der Täter nach der Tat die deutsche Staatsangehörigkeit, schließt dies die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts hingegen nicht nachträglich aus.[128]
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Einschränkend wird jeweils vorausgesetzt, dass entweder die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt, z.B. wenn die Tat auf hoher See auf einem flaggenlosen Schiff begangen wird.[129] Sollten mehrere ausländische Tatortstaaten existieren, ist das „lex loci“-Erfordernis gewahrt, wenn einer der Staaten die Tat mit Strafe bedroht.[130] Jedenfalls durch die Beachtung der lex loci bleibt der völkerrechtliche Nichteinmischungsgrundsatz bei den Personalitätsprinzipien gewahrt (Rn. 25).[131] Von der notwendigen identischen Tatortnorm kann nur gesprochen werden, wenn die jeweilige Tat (im prozessualen Sinne) zum Zeitpunkt ihrer Begehung mit Kriminalstrafe oder einer vergleichbaren Rechtsfolge bedroht ist.[132] Außerstrafrechtliche Sanktionen wie z.B. Geldbußen genügen nicht, soll die Berücksichtigung des Tatortrechts doch gerade dem Sinn und Zweck dienen, die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts zu bestimmen.[133]
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Für die erforderliche Tatidentität genügt es nach herrschender Meinung, wenn das Verhalten des Täters nach konkreter Betrachtungsweise am Tatort nach irgendeiner beliebigen Norm strafbar ist. Ausländischer und nationaler Straftatbestand müssen indessen weder inhaltlich im Konkreten noch in ihrem geschützten Rechtsgut im Allgemeinen übereinstimmen.[134] Sofern die Tat am Tatort gerechtfertigt, entschuldigt oder aus einem sonstigen Grund trotz verwirklichten Tatbestands materiellrechtlich nicht strafbar ist, schließt dies die Ausdehnung der nationalen Strafgewalt aus.[135] Grenzen im Sinne eines allgemeinen internationalen „ordre public“-Vorbehalt existieren insoweit nur, wenn das ausländische Recht universal anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätzen widerspricht.[136] Verfolgungshindernisse nach Tatortrecht (z.B. Verjährung oder fehlender Strafantrag) sind hingegen nach wohl herrschender Ansicht unbeachtlich, wenn die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts über das aktive oder passive Personalitätsprinzip begründet wird. In diesen Fällen wird schließlich – anders als bei dem Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege – originäre Strafgewalt ausgeübt.[137]
e) § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB: Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege
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Gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist für Auslandstaten deutsches Strafrecht anwendbar, wenn der Täter zur Zeit der Tat zwar Ausländer war (und somit das aktive Personalitätsprinzip nicht einschlägig ist), aber im Inland betroffen und trotz zulässiger Auslieferung nach dem Auslieferungsgesetz nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung nicht ausführbar ist. Die Vorschrift soll mit anderen Worten dann eingreifen, wenn eine Verurteilung im Ausland scheitert und mangels Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts nach sonstigen legitimierenden Anknüpfungspunkten der Täter im Inland nicht bestraft werden könnte.[138]
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Unter „Ausländer“ sind auch Staatenlose zu verstehen.[139] Im Inland betroffen ist der Täter, wenn dort seine Anwesenheit festgestellt wird.[140] Auslieferungshindernisse (z.B. nach § 8 IRG wegen drohender Todesstrafe im ersuchenden Staat) stehen der Zulässigkeit der Auslieferung (und somit der Ausübung der stellvertretenden Strafrechtspflege) nicht entgegen, sondern nur deren Ausführbarkeit.[141]
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Als angemessene Frist im Sinne des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB werden drei Wochen angesehen; dieser Zeitraum wird gewöhnlich möglichen Verfolgerstaaten in der üblichen Anfrage eingeräumt, ob ein Auslieferungsgesuch gestellt wird.[142] Vor Ablauf der angemessenen Frist besteht ein vorläufiges Verfahrenshindernis wegen (derzeit) fehlender deutscher Gerichtsbarkeit.[143] Es muss feststehen, dass eine Auslieferung tatsächlich nicht erfolgt, und das Gericht hat sich insoweit um eine Erklärung der für die Entscheidung über ein Auslieferungsersuchen zuständigen Stelle zu bemühen.[144] Allerdings erscheint es nicht unbedenklich, dass bei nicht gestelltem Auslieferungsersuchen generell die deutsche Strafgewalt begründet werden soll. Schließlich kann dieser Entscheidung des Verfolgerstaats auch ein Verzicht auf Strafverfolgung zu entnehmen sein, so dass ebenso wenig mehr von einer derivativen Strafgewalt die Rede sein kann.[145]
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Einschränkend ist wiederum erforderlich, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Schließlich liegt es ohne Berücksichtigung des Tatortrechts fern, von einer stellvertretenden Strafrechtspflege zu sprechen. Auch insoweit soll nach verbreiteter Ansicht – wie bei den Personalitätsprinzipien (Rn. 61) – allein auf die materiellrechtliche Strafbarkeit abzustellen sein.[146] Dem ist entgegenzuhalten, dass der Ergreifungsstaat lediglich eine abgeleitete Strafgewalt ausübt. Verfahrenshindernisse oder auch eine lediglich entgegenstehende Verfolgungspraxis sind daher zu beachten.[147] Da der Täter allerdings zum Zeitpunkt der Tat nicht damit rechnen musste, in Deutschland abgeurteilt zu werden, soll ein ggf. milderes Tatortrecht berücksichtigt werden.[148]
4. Ungeschriebene Beschränkung auf inländische Rechtsgüter
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Auch wenn die Voraussetzungen der §§ 3 ff. StGB erfüllt sind, scheidet die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf eine (Inlands- wie Auslands-)Tat nach allgemeiner Ansicht aus, wenn eine Strafvorschrift nur „inländische Rechtsgüter“ schützt, gegen die sich die jeweilige Tat aber nicht richtet.[149] Umstritten ist, ob sich diese Beschränkung schon aus den – nach dieser Ansicht vorab zu erörternden – §§ 3 ff. StGB ergibt[150] oder insoweit allein auf die Auslegung der einzelnen Straftatbestände zu verweisen bleibt.[151] Veranschaulicht werden kann die fehlende Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts anhand der Staatsschutztatbestände der §§ 80 ff. StGB, die lediglich Deutschland selbst vor Angriffen auf die innere und äußere Sicherheit bewahren sollen. Andere Staaten müssen sich hingegen selbst um ihren eigenen Schutz kümmern. Würde insoweit auf das deutsche Strafrecht zurückgegriffen werden, könnte dies vielmehr als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der betroffenen Staaten und als Verletzung ihrer Staatshoheit aufzufassen sein.[152]
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Ob ein Straftatbestand lediglich inländische Rechtsgüter schützt, ergibt sich aus dessen Auslegung. Hierbei wird nicht zuletzt der Sinn und Zweck der Vorschrift besonders zu beachten sein.[153] Strafvorschriften zum Schutz von staatsbezogenen Universalrechtsgütern beziehen sich demnach in der Regel lediglich auf nationale Interessen. Exemplarisch ist insoweit neben den genannten §§ 80 ff. StGB auf die Rechtspflegedelikte z.B. der § 145d, §§ 153 ff. und § 258 StGB zu verweisen,[154] die grundsätzlich nur die inländische Rechtspflege vor Beeinträchtigungen schützen sollen;[155] siehe aber § 162 StGB zur Anwendbarkeit der §§ 153 ff. StGB auf falsche Angaben in einem Verfahren vor einem internationalen Gericht.[156]
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Bei Straftaten, die (zumindest auch) Individualrechtsgüter schützen, geht die Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen Interessen ins Leere. Es werden vielmehr sämtliche Rechtsgüter eines Einzelnen unabhängig von seiner Nationalität geschützt, hat jeder Staat doch auch ausländischen Staatsangehörigen jedenfalls einen Mindestschutz zu