Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
aus über das Internet verbreitet werden, unterfielen demzufolge nicht dem deutschen Strafrecht.[221] Konsequenterweise hat der Dritte Strafsenat des BGH einen Angeklagten vom Vorwurf des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a StGB freigesprochen, der von Tschechien aus Bilddateien mit Hakenkreuzen auf ein Internet-Videoportal geladen hat.[222]
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Nach der vorzugswürdigen Gegenansicht (Rn. 75) wäre eine Anwendung des § 86a StGB in dem vorstehenden Fall nicht schon deswegen kategorisch ausgeschlossen, weil es sich bei der Vorschrift um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt. Vielmehr käme jedenfalls dann die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts in Betracht, wenn das geschützte Rechtsgut tatsächlich beeinträchtigt bzw. zumindest konkret gefährdet wird und daher der betroffene Staat auch die Ausübung seiner Strafgewalt beanspruchen darf. Gleiches gilt für abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte wie die Volksverhetzung gemäß § 130 StGB, die eine als gefährlich eingestufte Tätigkeit unter der zusätzlichen Voraussetzung unter Strafe stellen, dass sie geeignet ist, das geschützte Rechtsgut zu verletzen. Insoweit hob der Erste Strafsenat des BGH in seiner Toeben-Entscheidung zunächst zu Recht hervor, dass sich die Auslegung des „zum Tatbestand gehörenden Erfolgs“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB nicht an den Kategorien der allgemeinen Tatbestandslehre und deren Differenzierung zwischen Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten orientiere. Maßgeblich sei vielmehr der Gesetzeszweck des § 9 StGB, der Beeinträchtigungen und Gefährdungen von Rechtsgütern unterbinden wolle, welche der jeweilige Straftatbestand gerade schütze.[223] Der Erste Strafsenat verstand diesen nicht unzutreffenden Ausgangspunkt sodann aber allzu weit und schien letzten Endes allein infolge der freien Abrufbarkeit einer englischsprachigen Holocaustleugnung, die ein australischer Staatsbürger auf einer auf einem australischen Server gespeicherten Webseite äußerte, im Inland eine konkrete Eignung der Äußerung zur Friedensstörung hierzulande und somit auch die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts zu bejahen.[224] Auch der notwendige völkerrechtlich legitimierende Anknüpfungspunkt ergebe sich aus dem Gewicht des im konkreten Fall von § 130 StGB geschützten inländischen Rechtsguts und dessen objektivem besonderen Bezug zum inländischen Staatsgebiet.[225] Dies bedeutete aber letztlich, allein aus dem Schutzgut eines nationalen Straftatbestandes und dem ihm von dem nationalen Gesetzgeber verliehenen Gewicht den notwendigen völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunkt ableiten zu können, so dass dieser Voraussetzung nahezu jede eingrenzende Funktion gegenüber der nationalen Strafgewalt genommen würde.[226] Wie sich die (eine eher extensive nationale Strafgewalt befürwortende) Toeben-Entscheidung des Ersten Strafsenats und die jüngere (eher restriktive) Entscheidung des Dritten Strafsenats zur Verbreitung von Hakenkreuzen von Tschechien aus miteinander vereinbaren lassen sollen, ist nicht ersichtlich. In einer weiteren Entscheidung (zu einer Holocaust-Leugnung während einer Versammlung in der Schweiz vor unter anderem deutschen Zuhörern) hat sich hingegen der Dritte Strafsenat von der Toeben-Entscheidung deutlich distanziert und verneint, dass das Merkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens zum Tatbestand des § 130 Abs. 3 StGB gehöre.[227]
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Unabhängig von der Diskussion um einen etwaigen Erfolgsort abstrakter Gefährdungsdelikte ergeben sich jedenfalls bei Erfolgsdelikten im Internet in der Regel Jurisdiktionskonflikte. So ist an sich auf jegliche Beleidigung in einem Forum oder in einem Kommentar eines sozialen Netzwerks das deutsche Strafrecht anwendbar, weist § 185 StGB doch wegen seines Kundgabecharakters überall dort einen Erfolgsort auf, wo die ehrverletzende Äußerung wahrgenommen werden kann.[228] Gleiches gilt für Verletzungen des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, z.B. für die unbefugte Veröffentlichung von Nacktbildern im Internet, soweit die einzelnen Tatmodalitäten des § 201a Abs. 1 StGB als Erfolgsdelikte angesehen werden (näher → BT Bd. 4: Brian Valerius, Verletzung des Rechts am eigenen Wort und Bild, § 13 Rn. 24 f.). Zumindest in diesen Konstellationen bleibt somit der Frage nachzugehen, ob wirklich jeder Staat nur deswegen seine Strafgewalt beanspruchen kann, weil die nach seiner Rechtsordnung strafbaren Inhalte auch von seinem Territorium aus abgerufen werden können, selbst wenn sie etwa nach der Rechtsordnung des Heimatstaates des Täters legal sein sollten.[229] Am verbreitetsten dürfte insoweit ein Ansatz sein, der bei sozialschädlichen Verhaltensweisen im Internet einen besonderen territorialen Bezug zum Inland fordert, damit deutsches Strafrecht anwendbar ist, und ansonsten § 9 Abs. 1 StGB teleologisch reduzieren will.[230] Denkbar wäre des Weiteren, eine Rangfolge der einzelnen Begehungsorte zu erstellen – schließlich weisen die genannten multiterritorialen Delikte in der Regel nur einen Handlungs-, aber eine Unzahl von Erfolgsorten auf (Rn. 77) – und den Handlungsort als primären Anknüpfungspunkt für die nationale Strafgewalt heranzuziehen. Der Erfolgsstaat könnte hingegen sein Strafrecht nur dann anwenden, wenn die Tat auch am Handlungsort mit Strafe bedroht ist bzw. der Handlungsort keiner Strafgewalt unterliegt.[231] Unabhängig von solchen dogmatischen Lösungsversuchen blieben freilich internationale Vereinbarungen zu begrüßen, in denen die einzelnen Staaten selbst ihre Zuständigkeiten für Straftaten im Internet regeln und gegenseitig begrenzen.[232]
2. Grenzüberschreitende Kooperation
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Bei der Bestimmung der Reichweite der nationalen Strafgewalt kann auch die zunehmende grenzüberschreitende berufliche Zusammenarbeit Schwierigkeiten bereiten. Nicht zuletzt Forschungsvorhaben werden inzwischen häufig international betrieben und können insbesondere dann Strafbarkeitsrisiken für sämtliche Beteiligte begründen, wenn sie ein (zumeist ethisch wie auch) rechtlich in der Staatengemeinschaft umstrittenes Projekt zum Gegenstand haben. Exemplarisch kann insoweit auf die Forschung an embryonalen Stammzellen verwiesen werden, die nach derzeitigem Stand der Wissenschaft nur durch die Abtötung von Embryonen gewonnen werden können und deren Gewinnung (sowie die darauf aufbauende Forschung) demzufolge in den einzelnen Staaten äußerst unterschiedlich geregelt ist. Das Spektrum reicht von den Extremen der uneingeschränkten rechtlichen Gestattung solcher Forschungsvorhaben (z.B. in Großbritannien und in den Niederlanden) einerseits und einem völligen Verbot (z.B. in Polen und Italien) andererseits bis hin zur eingeschränkten Zulässigkeit (wie in Deutschland unter den Voraussetzungen der §§ 4 f. StZG).
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Sofern sich an solchen grenzüberschreitenden Projekten verschiedene Personen von verschiedenen Staaten aus beteiligen, sind auch die ggf. unterschiedlichen nationalen rechtlichen Regelungen einschließlich etwaiger Straftatbestände im Blick zu behalten. Da das Strafanwendungsrecht jedenfalls in Deutschland keine Kollisionsregelung enthält und das begrenzende „lex loci“-Erfordernis nur in § 7 StGB aufgenommen wurde, können sich insbesondere von Deutschland aus an dem Projekt teilnehmende Personen in der Regel nicht darauf berufen, dass ggf. in einem anderen Staat die rechtliche Zulässigkeit des Projekts außer Frage steht, selbst wenn es dort hauptsächlich betrieben wird. In diesem Fall begründet bereits die eigene Mitwirkung an dem jeweiligen Vorhaben von Deutschland aus hierzulande einen Handlungsort gemäß § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB für Täter bzw. gemäß § 9 Abs. 2 S. 1 Var. 2 StGB für Teilnehmer, so dass eine Inlandstat gegeben und somit deutsches Strafrecht unabhängig von der Rechtslage am Hauptort des Projekts anwendbar ist. Für den Teilnehmer regelt § 9 Abs. 2 S. 2 StGB sogar ausdrücklich, dass für die Teilnahme an einer Auslandstat vom Inland aus das deutsche Strafrecht gilt, auch wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist.
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Bei Auslandstaten sind vor allem bei Forschungsvorhaben zudem § 5 Nr. 12 und 13 StGB zu beachten, sofern es sich bei dem Wissenschaftler um einen Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten handelt. Dies betrifft vor allem verbeamtete Wissenschaftler an staatlichen Universitäten. Hingegen sind Forscher an privaten Hochschulen oder auch an Max-Planck-Instituten bei gleicher wissenschaftlicher Tätigkeit wegen ihrer fehlenden Verbeamtung nicht erfasst.
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