Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
Strafrecht beschränken sich die nationalen Gesetzgeber im Wesentlichen gleichfalls darauf, die Reichweite der Strafgewalt auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte einseitig zu bestimmen anstatt von vornherein Kollisionen durch entsprechende Regelungen zu vermeiden. Je weiter ein nationaler Gesetzgeber hierbei den Anwendungsbereich seiner Strafrechtsordnung im Allgemeinen zieht, desto wahrscheinlicher entstehen bei einer konkreten Tat Jurisdiktionskonflikte mit anderen Staaten. Allerdings muss ein extensives Strafanwendungsrecht nicht stets einem Bedürfnis des nationalen Gesetzgebers entspringen, sondern kann auch entsprechenden Vorgaben in völkerrechtlichen Regelungen geschuldet sein,[245] die (positive) Jurisdiktionskonflikte durch ein engmaschiges Netz nationaler Strafgewalten mehren wollen, damit gerade die Strafverfolgung von grenzüberschreitender Kriminalität gewährleistet wird.[246] Freilich ist die Ausgangslage bei Jurisdiktionskonflikten im Strafrecht gerade gegenüber dem Privatrecht zum einen insofern eine andere, als konkurrierende ausländische Regelungen ein Rechtsverhältnis widersprüchlich zu klären drohen, während bei konkurrierenden Strafgewalten in der Regel „nur“ eine Mehrfachsanktion droht, die ggf. noch auf anderem Wege vermieden werden könnte. Völlig ausgeschlossen scheint es allerdings nicht, dass widerstreitende nationale Rechtsordnungen den Normunterworfenen auch in ein Dilemma stürzen können, in dem sowohl ein aktives Tun nach der einen als auch dessen Unterlassen nach der anderen Rechtsordnung strafbar ist.[247] Zum anderen bliebe zu beachten, dass strafrechtliche Kollisionsregelungen nur die Voraussetzungen zum Gegenstand haben dürften, unter denen das eigene Recht angewendet werden kann; der unmittelbare Rückgriff nationaler Gerichte auf ausländische Strafvorschriften wird hingegen – anders als im Internationalen Privatrecht – bislang nicht diskutiert.[248]
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Eine Ursache für die bisher gezeigte Zurückhaltung gegenüber strafrechtlichen Kollisionsregelungen mag darin liegen, dass gerade die nationale Strafgewalt eines Staates als ein Ausdruck der hoheitlichen Macht angesehen wird[249] und in diesem Bereich daher nur ungern Kompetenzen abgegeben werden. Ein ähnliches Bild lässt sich bei der Diskussion um ein Europäisches Strafrecht bemerken, bei der – losgelöst von sämtlichen Bedenken an der konkreten Entwicklung und an der unzureichenden Berücksichtigung zentraler Rechtsprinzipien bei den europäischen Einflüssen auf die nationale Strafrechtsordnung – im Allgemeinen Zurückhaltung bei der Übertragung von Zuständigkeiten an den Tag gelegt wird.
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Solche durchaus nicht unberechtigten Bedenken einmal außer Acht gelassen, erweist sich im Strafrecht angesichts der wachsenden Zahl an Sachverhalten, in denen für ein und dasselbe Geschehen mehrere Staaten ihre Strafgewalt beanspruchen können, eine Abstimmung der Kompetenzbereiche indessen als zunehmend überlegenswert. Insoweit wird auch vermehrt auf das sog. Kompetenzverteilungsprinzip verwiesen, wonach die Staaten durch völkerrechtliche Vereinbarungen (insbesondere positive) Jurisdiktionskonflikte möglichst vermeiden und Doppelbestrafungen verhindern sollen.[250] Ob es sich hierbei allerdings um ein völkerrechtliches Prinzip und nicht nur um die Beschreibung eines berechtigten Anliegens und wünschenswerten Ziels handelt, erscheint fraglich. Zum einen vermag die Feststellung der fraglosen Notwendigkeit einer Konfliktlösung bei konkurrierenden Strafgewalten nicht die Diskussion um die hierfür erforderlichen Abgrenzungskriterien zu ersetzen.[251] Diese Kriterien dürfen zudem den völkerrechtlichen Charakter des Strafanwendungsrechts nicht außer Acht lassen.[252] Bereits geschlossene völkerrechtliche Verträge als Quelle heranzuziehen, drohte zum anderen bloße Zweckmäßigkeitsüberlegungen, auf denen Kompetenzabgrenzungen in den getroffenen Vereinbarungen beruhen, zu einem originären Prinzip zu überhöhen.[253]
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In nach wie vor häufiger Ermangelung völkerrechtlicher Vereinbarungen[254] erscheint auch eine Rangfolge der Anknüpfungspunkte für die nationalen Strafgewalten diskussionswürdig. So schlägt Ambos – grob skizziert[255] – vor, grundsätzlich dem Territorialitätsprinzip den generellen Vorrang einzuräumen, wobei die Anknüpfung an den Handlungsort gegenüber dem Erfolgsort vorgehe.[256] Gleichrangig sei aber grundsätzlich das Realprinzip einzustufen, während subsidiär in absteigender Reihenfolge das aktive Personalitätsprinzip, das passive Personalitätsprinzip und schließlich allenfalls ergänzend der Grundsatz stellvertretender Strafrechtspflege einzuordnen seien.[257] Das Weltrechtsprinzip sei gegenüber Territorialitäts- und Personalitätsprinzipien subsidiär, wenn der Territorialstaat zur Strafverfolgung willens und fähig sei.[258] Nicht von der Hand zu weisen sind freilich Bedenken im Hinblick auf die Relativität und die Interdependenz der einzelnen Anknüpfungspunkte. Es erscheint daher bei jedem Versuch einer Hierarchisierung der völkerrechtlichen Prinzipien zum Strafanwendungsrecht fraglich, ob ihm mehr als lediglich ein Programmcharakter zukommt.[259]
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Sollte es nicht zu einer Abstimmung der nationalen Strafgewalten kommen, wäre es zumindest wünschenswert, eine mehrfache Strafverfolgung in verschiedenen Staaten wegen ein und derselben Tat zu verhindern. Allerdings ist im zwischenstaatlichen Rechtsverkehr der „ne bis in idem“-Grundsatz nicht anerkannt,[260] wenngleich immerhin erste Regelungen (z.B. in Art. 54 SDÜ sowie in Art. 50 EuGrCh)[261] existieren. Auch Art. 103 Abs. 3 GG kann insoweit kein Verbot einer Mehrfachbestrafung entnommen werden, da die Norm nur für Entscheidungen deutscher Gerichte gilt.[262] In Deutschland wird lediglich eine im Ausland verhängte und vollstreckte Strafe gemäß § 51 Abs. 3 S. 1 StGB auf die von einem inländischen Gericht ausgesprochene Strafe angerechnet.[263] Außerdem steht der Staatsanwaltschaft gemäß § 153c Abs. 2 StPO die verfahrensrechtliche Möglichkeit offen, von der Verfolgung einer Tat unter bestimmten Umständen abzusehen (Rn. 122).
7. Abschnitt: Geltungsbereich des Strafrechts › § 31 Räumlicher Geltungsbereich › D. Rechtsvergleich
I. Das Strafanwendungsrecht in Österreich
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Das österreichische Strafanwendungsrecht in den §§ 62 ff. öStGB ist mit seiner deutschen Entsprechung in den §§ 3 ff. StGB weitgehend vergleichbar. Gemeinsam ist beiden Regelungskomplexen zunächst, dass es sich hierbei jeweils nicht um Kollisionsrecht handelt.[264] Außerdem werden die gleichen völkerrechtlichen Prinzipien bemüht, um die Reichweite der nationalen Strafgewalt zu bestimmen und bei Sachverhalten mit Auslandsberührung den notwendigen legitimierenden Anknüpfungspunkt zu bezeichnen.[265] Wiederum wird schließlich die inländische Gerichtsbarkeit als objektive Bedingung der Strafbarkeit angesehen.[266]
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Das primäre völkerrechtliche Prinzip stellt auch im österreichischen Strafanwendungsrecht das Territorialitätsprinzip dar (§ 62 öStGB), das – wie in Deutschland – durch das Flaggenprinzip (§ 63 öStGB) ergänzt wird. Weitere völkerrechtliche Prinzipien, namentlich das Realprinzip (siehe z.B. § 64 Abs. 1 Z. 1 und 3 öStGB), das aktive (§ 64 Abs. 1 Z. 2a, Z. 4a, Z. 4b, Z. 9 und Z. 10 öStGB) wie passive Personalitätsprinzip (§ 64 Abs. 1 Z. 4a lit. a und Z. 7 öStGB), das Weltrechtsprinzip (§ 64 Abs. 1 Z. 1, Z. 5 und 6) sowie das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (§ 64 Z. 5 lit. d, Z. 9 lit. f und Z. 10, § 65 Abs. 1 Z. 2 öStGB) werden in § 64 und § 65 öStGB aufgegriffen. Diese Vorschriften unterscheiden sich dadurch, dass § 64 öStGB anders als § 65 öStGB keine Strafbarkeit nach dem Recht des Tatorts voraussetzt. Im Groben lassen sich diese Regelungen und die darin zum Ausdruck kommenden Prinzipien mit den §§ 5, 6 StGB einerseits und mit § 7 StGB andererseits vergleichen. Stets setzt die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts – ebenso wie nach deutscher Rechtslage – zudem voraus, dass der jeweilige Straftatbestand nicht allein innerstaatliche Interessen schützt, was sich im Wege seiner Auslegung ergibt.[267]
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Ähnlich wie in § 5 StGB