Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea. Hans-Peter Schwintowski
Zusammenhang stehen, muss der wichtige Grund i.S.d. § 84 AktG, insbesondere wenn er lediglich auf Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung beruht, keinen wichtigen Grund für die Kündigung des Anstellungsvertrages darstellen. Da die wichtigen Beendigungsgründe bei der Bestellung und im Anstellungsvertrag somit nicht deckungsgleich sind, muss der Aufsichtsrat jeweils eine Entscheidung über beide Rechtsverhältnisse treffen. Er kann dabei durchaus zu der Entscheidung gelangen, dass die Gründe für eine Abberufung des Vorstands gem. § 84 Abs. 2 S. 1 AktG ausreichen, für eine außerordentliche Kündigung des Anstellungsverhältnisses gem. § 626 Abs. 1 BGB jedoch nicht gewichtig genug sind. Wenn der Aufsichtsrat auf dieser Grundlage somit nur die Abberufung beschließt, ist im Zweifel von einem Fortbestehen des Anstellungsvertrages auszugehen.[65]
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Im umgekehrten Fall, dass der Aufsichtsrat lediglich ausdrücklich über die außerordentliche Kündigung des Anstellungsverhältnisses gem. § 626 BGB beschließt, liegt darin konkludent auch ein Beschluss über den Widerruf der Bestellung. Denn es ist davon auszugehen, dass bei Vorliegen eines wichtigen Kündigungsgrundes i.S.d. § 626 BGB immer auch ein wichtiger Grund des § 84 Abs. 1 AktG anzunehmen ist. Mit Beendigung des Anstellungsvertrages entfällt auch die Verpflichtung des Vorstands, als Organ für die AG tätig zu werden.[66]
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Für die Kündigung des Anstellungsvertrages ist gem. § 112 AktG ausschließlich das Aufsichtsratsplenum zuständig. Wie bei dem Abschluss des Anstellungsvertrages[67] kann das Aufsichtsratsplenum die Beschlussfassung über die Kündigung dem Personalausschuss übertragen. Die Beschlussfassung des Personalausschusses und die Kündigungserklärung dürfen in jedem Fall nicht vor der Entscheidung des Aufsichtsratsplenums über den Widerruf der Bestellung erfolgen, um keine faktische Bindung herbeizuführen.[68] In formeller Hinsicht ist eine vorherige Abmahnung[69] und auch eine Anhörung[70] des betroffenen Vorstandsmitglieds vor der Kündigungserklärung nicht erforderlich, weil § 626 BGB insofern lex specialis zu § 314 Abs. 2 BGB ist.[71]
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Wie bei der Abberufung ist materielle Kündigungsvoraussetzung gem. § 626 Abs. 1 BGB das Vorliegen eines wichtigen Grundes. Im Zusammenhang mit der Auslegung der Kündigungserklärung wurde bereits dargestellt,[72] dass in den Fällen, in denen ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB vorliegt, in aller Regel auch ein wichtiger Abberufungsgrund gem. § 84 Abs. 3 S. 1 AktG anzunehmen ist. Nicht jeder Abberufungsgrund i.S.d. § 84 Abs. 3 S. 1 AktG ist jedoch gleichzeitig ein wichtiger Kündigungsgrund für das Anstellungsverhältnis. Dies liegt daran, dass § 626 Abs. 1 BGB auf das pflichtwidrige Verhalten des Vorstands abstellt, während § 84 Abs. 3 S. 1 AktG vorrangig an der Interessenlage der Gesellschaft ausgerichtet ist. Bei § 626 Abs. 1 BGB sind stärker die sozialen Folgen der Beendigung des Anstellungsvertrages für den Vorstand, insbesondere der Fortfall der Vergütungsansprüche mit den Interessen der Gesellschaft abzuwägen.[73]
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Wie bei der Abberufung lässt sich eine allgemeine Definition, wann ein wichtiger Kündigungsgrund vorliegt, nicht geben. Die Entscheidung bedarf jeweils einer einzelfallbezogenen Abwägung der Interessen des Vorstands mit denen der Gesellschaft. Die Prüfung hat dabei zweistufig zu erfolgen. In der ersten Stufe ist zu prüfen, ob das Vorstandsmitglied seine gesetzlichen, satzungsgemäßen oder einzelvertraglich vereinbarten Pflichten gegenüber der Gesellschaft grob verletzt hat. Wenn dies bejaht wird, ist in der zweiten Stufe eine Abwägung zwischen den Interessen der Gesellschaft an einer sofortigen Beendigung des Anstellungsvertrages und den Interessen des Vorstands an einer Fortsetzung seines Anstellungsverhältnisses mit den sich daran anknüpfenden Vergütungsansprüchen vorzunehmen. Bei dieser Interessenabwägung sind die Schwere der persönlichen Verfehlungen des Vorstandsmitglieds, sein individuelles Verschulden, die Auswirkung für die Gesellschaft, die Dauer des Anstellungsverhältnisses, die Verdienste des Vorstands für die Gesellschaft, der für die Gesellschaft etwa entstandene Schaden und die sozialen Folgen für den Vorstand sowie die Möglichkeit der Gesellschaft, dem Vorstand eine andere Tätigkeit anzubieten, gegeneinander abzuwägen.[74] Eine vorsichtige Analogie der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zur Kündigung leitender Angestellter scheint möglich.[75]
70
Eine fristlose Kündigung eines Vorstandsmitglieds kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn der Pflichtverstoß nicht im Ressort des gekündigten Vorstandsmitglieds erfolgt ist. Dann muss es sich aber um eine Pflichtverletzung handeln, die in den Bereich der Gesamtverantwortung des Vorstands fällt. Im Rahmen der Gesamtverantwortung des Vorstands obliegen allen Vorstandsmitgliedern auch Kontroll- und Überwachungsaufgaben für die anderen Ressorts. Wenn die Kontroll- und Überwachungsaufgaben nicht wahrgenommen werden, können auch Pflichtverstöße aus anderen Ressorts zur fristlosen Kündigung des Anstellungsvertrages eines nicht zuständigen Vorstands führen.[76]
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Liegt ein wichtiger Kündigungsgrund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB vor, muss die Kündigung gem. § 626 Abs. 2 BGB innerhalb von zwei Wochen ab Kenntnis des wichtigen Kündigungsgrundes erfolgen. Bei der Kündigung eines Vorstandsmitglieds beginnt die Zweiwochenfrist grundsätzlich mit der Kenntnis des Aufsichtsrats von den Tatsachen, die den wichtigen Grund ausmachen. Entscheidend ist die Kenntnis des Gesamtsachverhalts. Die Kenntnis muss grundsätzlich bei allen Mitgliedern des Aufsichtsrats vorliegen, da die Entscheidung durch das Aufsichtsratsplenum zu erfolgen hat. Wenn ein Aufsichtsratsmitglied jedoch Kenntnis von dem Sachverhalt erlangt, muss es den Aufsichtsratsvorsitzenden ohne schuldhaftes Zögern informieren, der dann dafür zu sorgen hat, dass ohne unangemessene Verzögerung das Aufsichtsratsplenum einberufen wird, um über die fristlose Kündigung zu entscheiden. Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB läuft bei Einhaltung dieses Verfahrens ab dem Sitzungstag der Aufsichtsratssitzung. Bei Nichteinhaltung läuft die Frist ab dem Zeitpunkt, in dem bei Einhaltung des Verfahrens die Entscheidung hätte getroffen werden können.[77]
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Wie die Abberufung[78] kann das Anstellungsverhältnis des Vorstands auch durch Eigenkündigung des Vorstands, durch Abschluss eines mit dem Aufsichtsrat (§ 112 AktG) abzuschließenden Aufhebungsvertrages, durch den Tod des Vorstands oder durch Fristablauf beendet werden.
2.4 Eigenverantwortliche Leitung der Gesellschaft
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Zentrale Norm des Verwaltungshandels in einer deutschen AG und gem. Art. 39 Abs. 1, 9 Abs. 1 c ii SE-VO auch für eine deutsche SE mit dualistischem System ist die dem Vorstand gem. § 76 Abs. 1 AktG zugewiesene eigenverantwortliche Leitungsmacht. Indem § 76 Abs. 1 AktG die alleinige Leitungskompetenz und die Vertretungsmacht im Rahmen von § 78 AktG dem Vorstand zuweist, gibt er ihm eine von den übrigen Leitungsorganen unabhängige Stellung, die er im Unternehmensinteresse auszuüben hat. Anders als die Geschäftsführung gem. § 77 Abs. 1 AktG, die jedwede tatsächliche oder rechtsgeschäftliche Tätigkeit für die Gesellschaft erfasst, geht es bei der Leitung i.S.d. § 76 Abs. 1 AktG um die Führungsfunktion des Vorstands, mithin um einen herausgehobenen Teilbereich der Geschäftsführung. Diese Aufgabe obliegt dem Vorstand als Gesamtverantwortung. Sie ist zwingend und weder auf Angestellte, andere Organe (Aufsichtsrat oder Hauptversammlung) oder Dritte (Geschäftsführungsgesellschaft, Konzerngesellschaften) delegierbar. Nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben ist die Unternehmensleitung bezogen auf die Unternehmensplanung, -strategie, -koordination, -kontrolle und die Besetzung der Führungspositionen.[79]
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Der Vorstand handelt im Rahmen der Leitung weisungsfrei.[80] Anders als der Geschäftsführer der GmbH, der gem. § 37 Abs. 1 GmbHG der Weisung der Gesellschafterversammlung unterliegt, entscheidet der Vorstand nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen aufgrund eines autonomen unternehmerischen Handlungsspielraums, welche Entscheidungen im Unternehmensinteresse zu erfolgen haben. Weder der Aufsichtsrat, der auf seine Überwachungstätigkeit (§ 111 Abs. 1 AktG) beschränkt ist und dem