Praxishandbuch Medien-, IT- und Urheberrecht. Anne Hahn
aus Art. 5 Abs. 1 GG geht zudem über die mittelbare Grundrechtswirkung noch hinaus insoweit, als sie den Umfang der Schranken ihrerseits beschränkt, und zwar durch die im Lüth-Urteil formulierte Wechselwirkungstheorie,[36] die auch und vor allem durch die Abwägung im Einzelfall verwirklicht wird.
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Die Ausstrahlung von Art. 5 Abs. 1 GG in der Wort- und Bildberichterstattung ist damit auf 3 Ebenen zu beachten:
1. | bei der Bestimmung des Verständnisses der Äußerung, |
2. | bei der Auslegung der einschlägigen Gesetzesbestimmungen der allgemeinen Gesetze, |
3. | bei der Abwägung der kollidierenden Rechtspositionen.[37] |
III. Die Grundrechtsschranken nach Art. 5 Abs. 2 GG
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Art. 5 GG enthält in Abs. 2 einen generellen Schrankenvorbehalt in den Schranken der Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre.
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Die Frage, was unter „allgemeinen Gesetzen“ zu fassen ist, insbesondere, wann kein allgemeines Gesetz mehr vorliegt, hat seit Bestehen des Grundgesetzes zu vielfachen Diskussionen und vielfachen Nuancierungen in der Begriffsdefinition geführt.[38] Löffler/Ricker geben die heute h.M. wie folgt wieder: Unter „allgemeinen Gesetzen“ (seien) „nur diejenigen zu verstehen, die sich nicht speziell gegen die Presse, insbesondere nicht gegen die Beschaffung einer Information oder die Äußerung einer Meinung als solcher richten, sondern die dem … Schutze eines anderen Rechtsguts dienen“.[39] Der Gefahr, dass der (einfache) Gesetzgeber dies umgeht, indem er seinem gegen die Meinung anderer und gegen die Presse gerichteten Gesetz einen generellen Zweck unterlegt, begegnet das BVerfG mit der „Lüth“-Formel: Danach hat auch dann, wenn ein Gesetz als „allgemeines Gesetz“ anzuwenden ist, die Rspr. im Einzelfall abzuwägen, ob eine Gesetzesbestimmung im Lichte der besonderen Bedeutung der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG diesen Grundrechten gegenüber Vorrang haben und zu ihrer Einschränkung führen kann.[40]
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Regelungen zum Jugendschutz enthalten z.B. das JSchG und der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Der Ehrenschutz wird durch die §§ 185 ff. StGB i.V.m. § 374 ff. StPO und im Zivilrecht durch die §§ 823 ff. BGB sowie die Ansprüche auf Widerruf, Unterlassung und Schadensersatz gewährleistet.
IV. Das Zensurverbot
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Beim Zensurverbot nach Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG handelt es sich nicht um ein eigenständiges Grundrecht, sondern um eine „absolute Eingriffsschranke“,[41] mithin eine Schranken-Schranke.[42] Zensur in diesem Sinne ist nach h.M. nur die Vorzensur im Sinne einer formellen Vorkontrolle, also alle Beschränkungen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Werkes der Kommunikation, insbesondere das Abhängigmachen von behördlichen Vorprüfungen und Genehmigungen des Inhalts.[43]
V. Die Kunstfreiheit und ihre Ausstrahlungswirkung auf die zivilrechtliche Betrachtung der Wort- und Bildberichterstattung
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Nach dem Mephisto-Urteil liegt das Wesentliche einer künstlerischen Betätigung in der freien schöpferischen Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Die Abgrenzungsversuche der Kunst von Nichtkunst dürfen nicht auf der Ebene einer qualitativen Bewertung erfolgen; eine Differenzierung zwischen „guter“ und „schlechter“ und deswegen dem Schutzbereich nicht unterfallender Kunst stellt eine unzulässige Inhaltskontrolle dar.[44] Für Karikaturen und Satire gilt, dass diese grds. Kunst sein können, aber nicht in jeder Karikatur und Satire zugleich Kunst liegt.[45] Diese liegt nicht schon bei jeder Übertreibung, Verzerrung und Verfremdung vor.[46]
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Anders als Art. 5 Abs. 1 GG ist die Kunstfreiheit schrankenlos gewährt. Nach dem Mephisto-Urteil des BVerfG[47] hat eine Konfliktlösung auf der Grundrechtsebene zu erfolgen. Die Grenzen der Kunstfreiheit könnten nur von der Verfassung selbst bestimmt werden,[48] z.B. durch die Grundrechte anderer Träger, etwa das Persönlichkeitsrecht, die Menschenwürde,[49] aber auch durch sonstige Rechtsgüter mit Verfassungsrang, z.B. Jugendschutz oder Eigentum. Infolgedessen bedarf es im Konfliktfall auf der Grundrechtsebene anzustellende Betrachtung einer Abwägung der widerstreitenden Grundrechtsinteressen.
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In der Praxis der Wort- und Bildberichterstattung liegt beim Persönlichkeitsrecht die entscheidende Frage, wann der Künstler befugt ist, einer individuellen Person zurechenbare Angaben zu benutzen, wenn die Darstellung geeignet ist, das Persönlichkeitsbild des Betroffenen zu beeinträchtigen. Im Mephisto-Urteil[50] bezeichnet es das BVerfG als wesentlich, ob und inwieweit das „Abbild“ gegenüber dem „Urbild“ in der künstlerischen Darstellung so verselbständigt erscheint, dass das individuelle, persönlich-intime zugunsten des allgemeinen, zeichenhafter „Figur“ objektiviert ist.[51] In einem solchen Falle müsse das Persönlichkeitsrecht des Dargestellten zurücktreten. Ergebe aber eine Betrachtung nach den Umständen des Einzelfalls, dass der Künstler ein „Portrait“ des Urbildes gezeichnet hat oder gar zeichnen wollte, komme es auf das Ausmaß der künstlerischen Verfremdung oder den Umfang und die Bedeutung der „Verfälschung“ für den Ruf des Betroffenen oder für sein Andenken an.[52]
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Diese grundlegende Auffassung des Mephisto-Urteils war schon damals sehr umstr.[53] und hat mittlerweile anhand praktischer Fälle auch gegenüber Filmwerken[54] oder Theaterstücken[55] zu großen Kontroversen geführt.
In seinem Beschl. v. 13.6.2007[56] in Sachen Esra hat das BVerfG nur eine schwere Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts als ausreichend angesehen, um die Freiheit der Kunst zurücktreten zu lassen.[57] Zur Feststellung der Schwere sei eine kunstspezifische Betrachtung zur Bestimmung des durch Roman im jeweiligen Handlungszusammenhang dem Leser nahe gelegten Wirklichkeitsbezugs erforderlich. Dabei sei ein literarisches Werk zunächst einmal als Fiktion anzusehen.[58] Diese Vermutung gelte auch dann, wenn hinter den Romanfiguren reale Personen als Urbilder erkennbar seien. Allerdings bestehe zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung eine Wechselbeziehung. Je stärker die Übereinstimmung von Abbild und Urbild, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Liegt eine solche schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung vor und ist deshalb ein gerichtliches Verbreitungsverbot ergangen, kann der Verletzte nur ausnahmsweise zusätzlich eine Geldentschädigung beanspruchen.[59]
1. Ermittlung des Aussagegehalts einer Äußerung
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Die rechtliche Beurteilung einer Äußerung beginnt mit Ermittlung ihrer richtigen Deutung. Einer Äußerung eine Deutung zu geben, die sich aus ihrem Wortlaut nicht oder nicht mit hinreichender Klarheit ergibt, verstößt gegen Art. 5 Abs. 1 GG.[60] Die Ermittlung des Sinngehalts einer Äußerung steht sowohl der revisionsrechtlichen als auch der verfassungsgerichtlichen Überprüfung offen.
1.1 Empfängerverständnis
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