Praxishandbuch Medien-, IT- und Urheberrecht. Anne Hahn
Weder kommt es darauf an, wie der Kritiker sie glaubt zu verstehen oder verstanden wissen will.[62] Noch kommt es darauf an, was der die Äußerung Tätigende als Verständnis gewollt hat.[63] Nicht gleichzusetzen ist der unbefangene Durchschnittsempfänger mit dem flüchtigen Leser.[64]
1.2 Berücksichtigung des Verständnisses aufgrund des Mediums
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Jedes Medium oder jede Gattung des Mediums hat eine besondere Ausdrucksweise. Z.B. liegt es in der Eigenart eines Fernsehberichts, dass er Worte und Bilder miteinander verknüpft, so dass deren Wechselwirkung, aber auch deren Gewichtung einem diesem Medium eigengesetzlichen Verständnis unterliegt.[65] So ist beim Fernsehen grds. vom Text auszugehen und den dazu gezeigten Bildern darf nicht ohne weiteres ein texterweiternder oder einengender Sinn beigelegt werden.[66] Unterhaltende Presse wie etwa Boulevardzeitungen oder Regenbogenzeitschriften sind darauf angewiesen, Sachverhalte in sprachlich verknappter Form darzustellen.
1.3 Kontextbetrachtung
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Die Äußerung ist als zusammenhängendes Ganzes unter Berücksichtigung des Kontexts und der Begleitumstände zu würdigen, soweit diese für die Rezipienten erkennbar sind.[67] Z.B. dürfen bei einer komplexen Äußerung nicht drei Sätze mit tatsächlichem Gehalt herausgegriffen und als unrichtige Tatsachenbehauptungen untersagt werden, wenn die Äußerung nach ihrem – zu würdigen – Gesamtzusammenhang in den Schutzbereich der Äußerungsfreiheit fallen kann und in diesem Fall eine Abwägung zwischen den verletzten Grundrechtspositionen erforderlich wird.[68] Zu berücksichtigen ist auch ggf. eine Wechselwirkung von Text und Bild.[69]
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Die Kontextbetrachtung hat bei Printmedien auch Bedeutung im Verhältnis Schlagzeile zu Artikelinhalt. Zunächst besteht keine Verpflichtung, in der Überschrift oder Schlagzeile eine Wiedergabe der Gesamtdarstellung vorzunehmen.[70] Andererseits soll z.B. eine Titelseite oder eine isolierte Schlagzeile auf der Titelseite ohne Rücksicht auf den Inhalt des Artikels auf den späteren Seiten des Mediums dann angegriffen werden können, wenn diese eine selbständige Aussage enthält[71] und ihr ein eigenständiger, von dem Bericht eindeutig zu trennender Sinngehalt zukommt.[72] Dies setzt allerdings zum einen voraus, dass die Artikelüberschrift eine in sich abgeschlossene und aus sich heraus interpretierbare Tatsachenbehauptung enthält[73] und zum anderen, dass sich dann aus der Schlagzeile auch der Betroffene selbst ergeben muss.[74] Diese Grundsätze gelten auch für Überschriften in Online-Erzeugnissen.[75] Ferner kann dies nicht der Fall sein, falls nachfolgende, etwa auf weiteren Seiten abgedruckte Artikelpassagen eine eindeutige Klarstellung des in der Schlagzeile oder Überschrift Gemeinten enthalten. Auch Dachzeilen oder Zwischenüberschriften sind bei der Kontextbetrachtung zu berücksichtigen.[76] Bei Internetveröffentlichungen gelten grds. keine anderen Anforderungen, wobei allerdings den Besonderheiten des Internets im Einzelfall Rechnung getragen werden muss. So können im Einzelfall z.B. von einer Internet-Suchmaschine unterbreitete Suchergänzungsvorschläge (Autocomplete-Funktion) mehrere Begriffe ein Aussagegehalt im Zusammenhang beider Begriffe zugemessen werden.[77]
1.4 Offene und verdeckte Äußerungen
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Grds. ist nur angreifbar, was offen ausgesprochen wurde. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn die angegriffene Äußerung in ihrem Gesamtzusammenhang eine verdeckte oder versteckte Aussage enthält. Bei der Feststellung solcher verdeckter Tatsachen ist besondere Zurückhaltung geboten.[78] Eine im Zusammenspiel der offenen Aussagen enthaltene zusätzliche eigene Sachaussage des Autors muss die Grenzen des Denkanstoßes überschreiten und sich dem Leser als unabweisliche Schlussfolgerung nahe legen.[79]
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Ein Anspruch auf vollständige Berichterstattung besteht grds. nicht, zumal die Medien aus einer Fülle von Fakten jene auszuwählen haben, über die berichtet werden soll und auch die Auswahl des „Berichtenswerten“ der Grundrechtsfreiheit unterliegt. In Ausnahmefällen hat der BGH in einer bewusst unvollständigen Berichterstattung eine angreifbare unwahre Tatsachenbehauptung gesehen.[80] Im Übrigen kann dies nur für wesentliche Angaben gelten, die dazu dienen, dem Vorgang in seiner Kernaussage ein anderes Gewicht zu geben. Das kommt allerdings nur in Betracht, wenn sich dem Leser eine im Zusammenhang der offenen Aussagen enthaltene zusätzliche eigene Aussage als unabweisbare Schlussfolgerung aufdrängen muss.[81]
1.5 Rechtsbegriffe und andere Begrifflichkeiten
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Die Sicht des unbefangenen Durchschnittslesers prägt auch das Verständnis von Begrifflichkeiten. So sind z.B. in der Regel Rechtsbegriffe nicht im rechtsdogmatischen Sinne zu verstehen, sondern so, wie dies allgemein alltagssprachlich verstanden wird.[82] Die Bezeichnung eines Betroffenen als „Mörder“ bedeutet nicht notwendig, es liege ein Mordmerkmal vor.[83] Das Gleiche gilt für strafrechtliche Deliktsbegriffe wie „Betrug“ oder „Unterschlagung“ oder die Frage, ob mit einem bestimmten Begriff (z.B. „Sabotage“) insgesamt eine strafrechtlich relevante Handlung oder der Vorwurf bewusster Schädigung verbunden sein muss.[84]
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Bei Äußerungen im politischen Meinungskampf ist besondere Zurückhaltung geboten beim wörtlichen Verstehen. Gerade z.B. im Wahlkampf sind hastige, aber übertreibende und verzerrende Darstellungen keine Ausnahme.[85]
1.6 Mehrdeutige Darstellungen
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Lange Zeit galt der Grundsatz der „verletzerfreundlichen Auslegung“ als fester Bestandteil des deutschen Presserechts. In seinem Klinik-Monopoly-Urteil hatte der BGH befunden: „Sind mehrere sich nicht gegenseitig ausschließende Deutungen des Inhalts an Äußerungen möglich, so ist der rechtlichen Beurteilung diejenige zugrunde zu legen, die dem in Anspruch genommenen günstiger ist und den Betroffenen weniger beeinträchtigt.“[86]
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Eine grds. Wendung erfolgte durch den Stolpe-Beschluss des BVerfG v 25.10.2005.[87] Für den Fall, dass von einem mehrdeutigen Inhalt auszugehen sei, unterschied das BVerfG zwischen Sanktionen wegen in der Vergangenheit erfolgter Meinungsäußerungen und wegen Sanktionen, die zukünftige Äußerungen betreffen. Bei einer Sanktion wegen in der Vergangenheit erfolgter Meinungsäußerungen verstoße ein Strafurteil oder ein die Verurteilung zum Schadensersatz, zum Widerruf oder zur Berichtigung aussprechendes zivilrechtliches Urteil gegen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, weil negative Auswirkungen auf die generelle Ausübung des Grundrechts zu befürchten seien.[88] Ein gleicher Schutzbedarf bestehe indessen nicht bei gerichtlichen Entscheidungen über die Unterlassung zukünftiger Äußerungen. Hier sei im Rahmen der rechtlichen Zuordnung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz zu berücksichtigen, dass der Äußernde die Möglichkeit habe, sich in der Zukunft eindeutig auszudrücken und damit zugleich klarzustellen, welche Äußerungsinhalte der rechtlichen Prüfung zugrunde zu legen ist. Eine auf Unterlassung zielende Verurteilung könne der Äußernde vermeiden, wenn er eine ernsthafte und inhaltlich ausweichende Erklärung abgebe, die mehrdeutige Äußerung nicht oder nur mit geeigneten Klarstellungen zu wiederholen.[89]
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Mag diese Rspr. auch pragmatisch und praktisch verfehlt sein,[90] so wird die Praxis doch mit ihr leben müssen. Allerdings hat ein obiter dictum in der Entscheidung des BVerfG zu Gegendarstellungsverlangen gegen mehrdeutige Erstmitteilungen die Möglichkeit der Klarstellung zur Vermeidung einer Unterlassungsverpflichtung noch einmal zugleich betont und ein Stück weit präzisiert.[91] Die Instanzgerichte haben dies bislang nur spärlich aufgegriffen. Unklar sind zudem noch viele Fragen dazu, wie etwa eine solche Klarstellung zu erfolgen hat.[92] Fraglich