Rechtsgeschichte. Susanne Hähnchen

Rechtsgeschichte - Susanne Hähnchen


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inhaltlich ergab sich das Bedürfnis für die prätorische Rechtsbildung wohl zuerst im Hinblick auf den Rechtsverkehr mit und unter Fremden (peregrini). Das römische Zivilrecht war ja auf römische Bürger und Latini, Inhaber des commercium sowie des connubium (Rn. 42) beschränkt. Fremde hatten zwar grundsätzlich ihr eigenes Heimatrecht. Die Römer gingen jedoch nicht den Weg moderner Rechtsordnungen, die sog. Kollisionsnormen schaffen, um die jeweils anwendbare Rechtsordnung zu bestimmen (sog. internationales Privatrecht, IPR, Rn. 395). Vielmehr entwickelten sie neben dem (alten) ius civile eine Anzahl römischer Rechtssätze, die von den römischen Gerichten auf den Verkehr zunächst zwischen Römern einerseits und Nichtrömern andererseits, bzw. Nichtrömern untereinander, aber schließlich auch zwischen Römern angewendet wurden. Man nennt ihre Gesamtheit das ius gentium (nicht zu verwechseln mit dem modernen Völkerrecht). Außerrömisches Recht haben die Römer nur ausnahmsweise anerkannt, z. B. die chirographa und syngraphae, griechische Schuldurkunden.

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      Besondere Bedeutung haben die aus dem Bereich des ius gentium stammenden Konsensualverträge. Das sind Verträge, die ohne weitere Formerfordernisse allein durch geäußerte Willensübereinstimmung (consensus) zustande kommen. Für uns heute ist der Grundsatz der Formfreiheit eine Selbstverständlichkeit. Er ist jedoch erst das Ergebnis einer sehr langen Entwicklung, die hier ihren Anfang nahm.

      Nach römischem Recht gehörten zu den Konsensualverträgen emptio venditio (Kauf), locatio conductio (Rn. 131), societas (Gesellschaft) und mandatum (Auftrag). Im klassischen Recht erscheinen die Konsensualkontrakte dann als Bestandteil des Zivilrechts.

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      Im Sachenrecht tritt die rei vindicatio (dingliche Herausgabeklage) an die Stelle der legis actio sacramento in rem. Ihre Formel lautete:

       Titius iudex esto. Si paret fundum Cornelianum (hominem Stichum) qua de re agitur, ex iure Quiritium Auli Agerii esse, neque ea res Aulo Agerio arbitrio iudicis restituetur, quanti ea res erit, tantam pecuniam iudex Numerium Negidium Aulo Agerio condemnato, si non paret, absolvito.

       Übersetzung:

      Titius soll Richter sein. Wenn es sich herausstellt, dass das Cornelianische Grundstück (der Sklave Stichus), worum es sich handelt, nach quiritischem Recht dem Aulus Agerius gehört, wenn diese Sache nicht dem Aulus Agerius nach dem Schiedsspruch des Richters zurückerstattet wird, wieviel die Angelegenheit (wert) sein wird, zu soviel Geld soll der Richter den Numerius Negidius an A.A. verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.

      Zuerst wurde ein Richter bestimmt, an den die Sache im zweiten Abschnitt des Verfahrens überwiesen wurde. Aulus Agerius (A.A.) war ein Blankettname für den Kläger (wörtlich: der reiche Kläger), Numerius Negidius („der zahlen soll und sich weigert“) einer für den Beklagten. An diese Stellen wurden die Namen der tatsächlichen Prozessbeteiligten eingesetzt. Ebenso wurde das Grundstück oder die begehrte Sache bezeichnet, um die geklagt wurde. Der Richter musste dann aufgrund der vorgelegten Beweise feststellen, ob die Sache tatsächlich dem Kläger gehörte. War dies der Fall, erhielt der Beklagte die Chance, sie an den Kläger herauszugeben. Tat er dies nicht, so kam es zur Verurteilung in Geld, auch im dinglichen Prozess. Konnte der Kläger hingegen sein Eigentum nicht nachweisen, wurde die Klage abgewiesen.

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      Die Verurteilung zu einer Geldzahlung ist der Grundsatz des römischen Zivilprozesses: omnis condemnatio pecuniaria est (jede Verurteilung geht auf Geld). Seinen Ursprung dürfte er in der Ablösung der persönlichen Rache durch Sühneleistungen in Geld haben (Rn. 69). Der Geschädigte bzw. seine Familie durften mit der zunehmenden Verrechtlichung nicht mehr direkt auf die Person des Schädigers zugreifen, sondern erhielten nach einem Gerichtsverfahren (nur) materiellen Ausgleich.

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      Die Vollstreckung setzte eine neuerliche Verurteilung des Beklagten aufgrund der actio iudicati voraus. Neben der Personalvollstreckung (Rn. 60) entwickelte sich die Vermögensvollstreckung (Realexekution), die grundsätzlich als Generalexekution stattfand, also in das gesamte Vermögen ging. Sie wirkte infamierend, d.h. der zahlungsunfähige Beklagte verlor seine Ehre, wurde von allen Ämtern ausgeschlossen und verlor auch die Antragsbefugnis in Prozessen. Mit anderen Worten: er war gesellschaftlich erledigt. Sein Vermögen wurde vom Prätor beschlagnahmt und es erfolgte eine öffentliche Bekanntmachung (proscriptio), durch welche andere Gläubiger aufmerksam gemacht wurden. Sie mussten innerhalb einer kurzen Frist ihre Forderungen anmelden, wollten sie diese nicht verlieren. Concursus creditorum bedeutet wörtlich das Zusammenlaufen der Gläubiger. Daher hat das Konkursrecht (Insolvenzrecht) seine Bezeichnung.

      Der erfolgreiche Kläger wurde vorübergehend als Verwalter in dieses Vermögen eingewiesen (missio in bona), was den Verkauf durch Versteigerung ermöglichte. Es wurde jedoch kein fester Kaufpreis gezahlt, sondern derjenige erhielt den Zuschlag, der bereit war, den Gläubigern die höchste Quote zu zahlen.

      Die Vollstreckung in einzelne Vermögensgegenstände (Spezialexekution) war zunächst die Ausnahme. Erst nachklassisch entwickelte sie sich zum Regelfall und ist es bis heute. Nur bei Überschuldung (Insolvenz) findet ein Konkursverfahren statt.

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      Im römischen Sachenrecht gab es keinen rechtsgeschäftlichen Erwerb vom Nichtberechtigten kraft guten Glaubens wie heute gemäß §§ 932 ff BGB für bewegliche Sachen und nach § 892 BGB für Grundstücke. Dafür spielte die Ersitzung (usucapio) fremder Sachen eine wesentlich größere Rolle als heute. Wenn jemand eine fremde Sache über eine längere Zeit wie ein Eigentümer hatte, erschien es den Römern sinnvoll, die scheinbare Rechtslage mit der tatsächlichen wieder zusammen zu führen. Unser sofortiger gutgläubiger Erwerb – der den Erwerber stärker schützt, als den (ehemaligen) Eigentümer, der sein Eigentum verliert – stammt hingegen aus dem germanischen oder mittelalterlichen deutschen Recht (Rn. 414).

      Die Ersitzung nach römischem Recht dauerte ein Jahr bei beweglichen Sachen (Mobilien) und zwei Jahre bei Grundstücken (Immobilien). Gestohlene Sachen waren von alters her von der Ersitzung ausgenommen. Funktional entspricht dem heute § 935 BGB: auch der gutgläubige Erwerb ist ausgeschlossen, wenn die Sache abhanden gekommen war.

      Hatte beispielsweise ein ahnungsloser Käufer vom Nichteigentümer eine Sache gekauft und war daher die Übereignung unwirksam, so musste der Käufer zwar auf die rei vindicatio des Eigentümers (Rn. 121) diesem die Sache heraus geben. Gegenüber Dritten aber schützten die Prätoren den Besitzer während der Ersitzungszeit mit einer besonderen actio Publiciana:

       Titius iudex esto. Si quem hominem Aulus Agerius bona fide emit et is ei traditus est, anno possedisset, tum si cum hominem eius ex iure Quiritium esse oportoret, si is homo Aulo Agerio arbitrio iudicis non restituetur, quanti ea res erit, tantam pecuniam iudex Numerium Negidium Aulo Agerio condemnato, si non paret, absolvito.

       Übersetzung:

      Titius soll Richter sein. Wenn A.A. diesen Sklaven in gutem Glauben gekauft hat und er ihm übergeben worden ist, wenn er ihn ein Jahr besessen hätte (und) dann dieser Sklave nach quiritischem Recht ihm gehören würde, wenn dieser Sklave dem A.A. nach dem Schiedsspruch des Richters nicht zurückerstattet wird, zu soviel Geld soll der Richter den N.N. an A.A. verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.

      Im


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