Rechtsgeschichte. Susanne Hähnchen
man jedoch von schuldrechtlichem Typenzwang sprechen sollte (wie wir ihn heute nur im Sachenrecht akzeptieren), erscheint fragwürdig.[24] Die Systematisierungsbestrebungen sind wahrscheinlich erst später aufgekommen. Jedenfalls sorgten die Prätoren mit ihrer Rechtsfortbildung dafür, dass entsprechend den praktischen Bedürfnissen anerkennenswerte Vereinbarungen auch eingeklagt werden konnten oder – sofern dies dienlicher war – daraus eine Einrede (exceptio) gewährt wurde. So gab es besondere (prätorische) Klagen gegen Schiffer (nautae) wegen des ihnen anvertrauten Gutes, gegen Bankiers (argentarii) sowie gegen Herbergs- und Stallwirte (caupones, stabularii) wegen der von den Gästen eingebrachten Sachen (Vorläufer der §§ 701 ff BGB) und auch eine Klage aus formlosem Schuldanerkenntnis (constitutum debiti). Man spricht hier von pacta praetoria.
Zusätzliche Erweiterungen der Klagemöglichkeiten folgten in klassischer Zeit in Gestalt sog. Innominatrealkontrakte (Rn. 188). Pacta legitima betrafen Schenkungen und sind spät- oder nachklassisch (Rn. 189). Vorher benutzte man die Stipulation, um ein Schenkungsversprechen klagbar zu machen. Handschenkungen hingegen, also sofort vollzogene Schenkungen, waren nach klassischem Recht formlos gültig, soweit nicht die Übereignung der Sache einer Form (mancipatio, Rn. 68) bedurfte. Diese Klagen, die alle nicht in das Vertragssystem passen, sowie im Einzelfall gewährte Klagen (actiones in factum, actiones utiles) deckten die Bedürfnisse der Praxis ab, sodass das Fehlen der Vertragsfreiheit im heutigen Sinne zu keinen Unzuträglichkeiten führte. Am besten vermeidet man unsere moderne Terminologie sogar in diesem Zusammenhang.
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Durch die Stellvertretung entsteht rechtliche Bindung zwischen einem selbst nicht Handelnden (Vertretener, Prinzipal) und einem Vertragspartner durch Einschaltung eines Vertreters. Stellvertretung wird gelegentlich als „rätselhafte Rechtsfigur“ oder „juristisches Wunder“ bezeichnet und ist keinesfalls so selbstverständlich, wie sie uns heute in den §§ 164 ff BGB entgegen tritt. Das römische Recht kannte sie grundsätzlich nicht. Vielmehr galt der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Obligationen, d.h. eine schuldrechtliche Bindung setzte grundsätzlich das persönliche Aktivwerden der beteiligten (freien) Personen voraus. Aus dem gleichen Grunde gab es auch keine Abtretung von Forderungen, sondern diese mussten zwischen dem Schuldner und dem neuen Gläubiger neu begründet werden.
Die Vorteile der Stellvertretung zeigen sich in einer arbeitsteiligen Wirtschaft. In Rom war es jedoch durch die Gewaltunterworfenen möglich, ähnliche Ergebnisse, aber mit ganz anderen rechtlichen Konstruktionen, zu erzielen.
Hauskinder und Sklaven erwarben unter gewissen Voraussetzungen Besitz und Eigentum für ihren Familienvater (pater familias) bzw. Herrn (dominus). Sie konnten ihm auch Ansprüche gegen Dritte mittels Stipulation verschaffen. Mit den sog. adiektizischen Klagen gestattete der Prätor, dass der Geschäftspartner, der mit einem Untergebenen kontrahierte, dessen Herrn, Vorgesetzten oder Vater auf das verklagte, was der Untergebene dem Partner versprochen hatte. Ob der Untergebene (auch) selbst schuldete, hing davon ab, ob er frei war. Sklaven konnten nicht rechtlich, sondern nur „natürlich“ schulden. Wirtschaftlich interessanter war in jedem Fall die Haftung des Vaters oder Herrn.
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Die adiektizischen Klagen waren die folgenden: Hatte der Gewalthaber seinem Hauskind oder Sklaven ein sog. peculium (Sondervermögen, etwa einen Gewerbebetrieb oder einen landwirtschaftlichen Hof) zur selbstständigen Bewirtschaftung überlassen, so haftete er auf Grund der actio de peculio den Vertragspartnern des Hauskindes oder Sklaven. Die actio de peculio (Klage wegen eines Sondervermögens) lautete:
Titius iudex esto. Quod Aulus Agerius apud Stichum, qui in postestate Numerii Negidii est, mensam argenteam deposuit, qua de re agitur, quidquid ob eam rem Stichum, si liber esset, ex iure Quiritium Aulo Agerio dare facere oporteret ex fide bona, eius iudex Numerium Negidium Aulo Agerio dumtaxat de peculio et si quid dolo malo Numerii Negidii factum est, quominus peculii esset, vel si quid in rem Numerii Negidii inde versum est, condemnato, si non paret, absolvito.
Übersetzung:
Titius soll Richter sein. Wenn sich herausstellt, dass A.A. dem Stichus, der in der Gewalt des N.N. ist, einen silbernen Tisch in Verwahrung gegeben hat, worum es geht, was wegen dieser Angelegenheit Stichus, wenn er frei wäre, nach quiritischem Recht dem A.A. geben oder tun müsste nach guter Treue, dazu soll der Richter den N.N. an A.A., soweit das Sondervermögen reicht, und wenn durch böse List des N.N. geschehen ist, dass etwas (daraus) dem Vermögen des N.N. zugewendet worden ist, verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, soll er freisprechen.
Stichus ist ein üblicher Blankettname für einen römischen Sklaven. Es geht in dem konkreten Beispiel um eine actio depositi (Verwahrungsklage). Der Sklave Stichus soll für den Kläger einen silbernen Tisch verwahrt haben. Beklagter ist jedoch der (unbeteiligte) Herr des Stichus, weil der Sklave nicht verklagt werden konnte. Mittels sog. Subjektumstellung wird erreicht, dass der Herr zu dem verurteilt wird, wozu sich sein Untergebener Stichus, wäre er frei, hätte verpflichten können. Allerdings beschränkt sich die Haftung des Herrn grundsätzlich auf den Bestand des dem Sklaven zur Bewirtschaftung überlassenen Sondervermögen (peculium). Manche Sklaven führten mittels dieses Sondervermögens selbstständig Geschäfte. Das peculium gehörte zwar formal dem Herren, haftete aber den Geschäftspartnern.
Bei selbstständiger Betriebsführung einer Gastwirtschaft oder eines Ladens durch einen institor wurde die actio institoria gewährt. Jünger war die actio quod iussu (Klage wegen Ermächtigung) auf Grund einer Ermächtigung (iussum) zur Vornahme eines Einzelgeschäfts. Sie wurde zunächst nur bei Ermächtigung von Hauskindern erteilt, in spätklassischer Zeit auch bei der von Vermögensverwaltern (Prokuratoren) welche typischerweise Freigelassene waren. Und mit der actio exercitoria (Reederklage) klagte der Vertragspartner eines Schiffskapitäns gegen den Reeder. Der Spätklassiker Papinian dehnte dann die Haftung des Geschäftsherren auch auf Freie aus (Rn. 170) und legte damit die Grundlage für die Entwicklung der modernen Stellvertretung.
§ 4 Der Prinzipat[1]
Literatur:
Bleicken, Verfassungsgeschichte und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches, Bd. 1 (4. Aufl. 1995); ders., Prinzipat und Republik. Überlegungen zum Charakter des römischen Kaisertums (1991); Christ, Die Römische Kaiserzeit: Von Augustus bis Diokletian (5. Aufl. 2018); Eck, Augustus und seine Zeit (6. Aufl. 2014); Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte (14. Aufl. 2005) S. 63 ff; 94 ff, 140 ff; v. Premerstein, Vom Werden und Wesen des Prinzipats (1937, trotz des Alters ein Standardwerk); Sommer, Das römische Kaiserreich, Aufstieg und Fall einer Weltmacht, 2018; Waldstein/Rainer, Römische Rechtsgeschichte (11. Aufl. 2014) S. 154 ff, 185 ff; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte II (2006) S. 3 ff; ders., Der römische Jurist und Über das Klassische in der Römischen Jurisprudenz, beides in: Vom Römischen Recht. Zehn Versuche (2. Aufl. 1961) S. 128 ff und S. 161 ff.
Zum Privatrecht und Prozessrecht siehe § 2.
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Zeit | allgemeines historisches Geschehen | rechtshistorisch bedeutsam |
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27 vor – 14 n. Chr. | Herrschaft des Augustus (Beginn des Prinzipat) |