Sachenrecht nach Anspruchsgrundlagen. Kurt Schellhammer

Sachenrecht nach Anspruchsgrundlagen - Kurt Schellhammer


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      Nach § 859 I darf sich der unmittelbare Besitzer verbotener Eigenmacht mit Gewalt erwehren. Rechtsfolge ist das Recht zur gewaltsamen Besitzwehr. Selbsthilfeberechtigt ist der unmittelbare Besitzer mit oder ohne Recht zum Besitz und für ihn nach § 860 auch sein Besitzdiener[68].

      Erlaubt ist diejenige Gewalt, die erforderlich ist, um die verbotene Eigenmacht wirksam zu verhindern. Wer diese Grenze, und sei es schuldlos, überschreitet, handelt rechtswidrig[69].

      Beispiel

      Sicherlich darf ich dem Dieb, der sich gerade auf mein Fahrrad schwingt, das Fahrrad entreißen, auch wenn er dadurch zu Fall kommt und sich verletzt. Wieviel Gewalt erforderlich ist, richtet sich allein nach der Stärke des Angriffs auf den Besitz. Will der Dieb das Fahrrad partout nicht loslassen, darf ich ihn vom Fahrrad ziehen und zu Boden werfen. Zwischen der Gesundheit des Diebs und dem Wert meines Fahrrads muss ich nach dem Gesetz nicht abwägen, denn der Besitz muss der Gewalt nicht weichen. Erlaubt ist die erforderliche Gewalt, nicht lediglich eine verhältnismäßige. Das Ende der Fahnenstange ist erst erreicht, wenn das Selbsthilferecht missbraucht wird, denn der Rechtsmissbrauch verdient nach § 242 keinen Schutz (BGH NJW 2009, 2530).

      Dies trifft aber nur auf Grenzsituationen zu. So ist es rechtsmissbräuchlich, auf Wanderer, die einen nicht gesperrten Privatweg über ein fremdes Grundstück begehen, Hunde zu hetzen und mit der Flinte zu schießen (BayObLG NJW 65, 163).

      Voraussetzung der Besitzwehr ist eine verbotene Eigenmacht nach § 858 I durch Störung des unmittelbaren Besitzes (RN 54, 57). Gegen eine vollendete Besitzentziehung – der Störer hat die Sache dem Besitzer bereist abgenommen und eigenen Besitz begründet – hilft nur noch die Besitzkehr nach § 859 II, III, und deren Voraussetzungen sind strenger.

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      Nach § 859 II darf der unmittelbare Besitzer eine bewegliche Sache, die ihm durch verbotene Eigenmacht weggenommen worden ist, dem auf frischer Tat betroffenen oder verfolgten Täter mit Gewalt wieder abnehmen. Hier ist der Besitz durch verbotene Eigenmacht bereits entzogen (RN 56), die Tat aber noch taufrisch und die Beute noch nicht in Sicherheit.

      Beispiel

      Der Dieb fährt bereits auf meinem Fahrrad davon, es gelingt mir aber, ihm den Weg abzuschneiden und ihn vom Fahrrad zu ziehen. Auch wenn er mir erst einige Stunden nach der Tat über den Weg fährt, muss ich nicht zusehen, wie er sich aus dem Staube macht.

      Eine noch engere zeitliche Grenze zieht § 859 III dem Grundstücksbesitzer, der seinen Besitz durch verbotene Eigenmacht verloren hat, denn er darf sich des verlorenen Besitzes nur sofort nach der Entziehung wieder bemächtigen, indem er den Täter gewaltsam von seinem Grundstück entfernt. „Sofort“ ist eine objektive und enge Zeitbestimmung und bedeutet: so schnell wie irgend möglich[70]. Wegen der strengen Zeitschranke des § 859 III muss man die Besitzentziehung sauber von der Besitzstörung abgrenzen.

      Beispiel

- Wer zu Werbezwecken eine Hauswand gemietet und nach der Verkehrsanschauung daran unmittelbaren Besitz erlangt hat, darf ein fremdes Werbeschild, das ohne seinen Willen dort angebracht wurde, zwar gewaltsam entfernen, muss dies nach § 859 III aber sofort tun, weil er damit nicht nur eine Besitzstörung abwehrt, sondern die Entziehung des Besitzes an einem Teil der Hauswand rückgängig macht (BGH NJW 67, 48).
- Das Gleiche gilt für das unbefugte Parken auf fremdem Grund und Boden, denn es entzieht dem unmittelbaren Grundstücksbesitzer einen Teil seines Besitzes (BGH NJW 2009, 2530: lässt es offen, weil § 859 III auf jeden Fall anwendbar sei). Erforderlich ist hier eine Besitzkehr durch Abschleppen oder Abschleppenlassen binnen weniger Stunden. Die Kosten des sofortigen Abschleppens darf der unmittelbare Besitzer dem Störer nach §§ 823 II, 683, 677, 670 in Rechnung stellen (BGH NJW 2009, 2530; 2012, 3781).
4. Der Besitzentziehungsanspruch

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      Nach § 861 I hat der unmittelbare Besitzer, der seinen Besitz durch verbotene Eigenmacht verloren hat, einen Anspruch auf „Wiedereinräumung des Besitzes“ gegen denjenigen, der ihm gegenüber fehlerhaft besitzt. Der Anspruch ist abtretbar[71].

      Rechtsfolge ist ein dinglicher Anspruch auf Wiedereinräumung des Besitzes. Anspruchsberechtigt ist der bisherige Besitzer, Anspruchsgegner ist der jetzige Besitzer, der nach § 858 II gegenüber dem früheren Besitzer fehlerhaft besitzt (RN 56).

      Der Anspruchsteller klagt auf Herausgabe, das Urteil ist nach § 883 ZPO vollstreckbar. Dass die Klage zugleich mit Eigentum nach § 985 oder mit einem besseren Recht zum Besitz nach § 1007 begründet wird, vermehrt nicht den Streitgegenstand sondern nur die rechtliche Begründung[72].

      Gibt der Anspruchsgegner die Sache während des Prozesses nicht heraus sondern weg, geht der Prozess nach §§ 265, 325 ZPO gleichwohl gegen ihn weiter[73] und kann das Urteil nach § 727 ZPO gegen den neuen Besitzer umgeschrieben werden.

      Da § 863 Einwendungen des Störers aus dem Recht zum Besitz ausschließt, kommt der beklagte Störer leicht in Versuchung, die Klage aus § 861 mit einer Widerklage auf Feststellung seines Rechts zum Besitz zu torpedieren. § 33 ZPO macht es möglich[74]. Wenn aber beide Klagen gleichzeitig entscheidungsreif und begründet sind, sich also widersprechen, muss das Gericht dem § 863 zum Trotz wohl oder übel der Widerklage stattgeben und die Klage abweisen, denn wenn der Besitz und das Recht zum Besitz im Prozess aufeinander treffen, muss der nackte Besitz dem Recht zum Besitz weichen[75]. Dagegen hilft nur eine schnelle Vorwegentscheidung über die Besitzschutzklage durch Teilurteil und dessen Vollstreckung. § 863 ist nicht mehr anwendbar, wenn in der letzten Instanz das Recht zum Besitz der einen oder anderen Partei feststeht[76].

      Beispiel

      Der Kläger verlangt Schadensersatz wegen Eigentumsverletzung, nachdem er die Sache durch verbotene Eigenmacht zurückgeholt hat. Der Beklagte fordert widerklagend Herausgabe der Sache wegen verbotener Eigenmacht.

      Sobald das Recht des Klägers zum Besitz feststeht, wird die Widerklage des Beklagten aus § 861 unbegründet, weil § 863 nicht mehr anwendbar ist (BGH NJW 99, 425).

      Statt durch Klage kann der frühere Besitzer seinen Herausgabeanspruch auch durch Antrag auf einstweilige Verfügung nach §§ 935, 940, 940a ZPO geltendmachen[77].

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      Der Anspruch aus § 861 I hat zwei Voraussetzungen, die der Anspruchsteller beweisen muss[78]:


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- den eigenen Verlust des unmittelbaren Besitzes durch verbotene Eigenmacht nach § 858 I (RN 54, 56) und