Sachenrecht nach Anspruchsgrundlagen. Kurt Schellhammer

Sachenrecht nach Anspruchsgrundlagen - Kurt Schellhammer


Скачать книгу
denn er muss erst noch erfüllt werden[9].

      36

      Der Wille zum Besitzerwerb muss sich nicht gezielt auf eine bestimmte Sache richten, sondern kann schon allgemein durch konkrete Vorkehrungen (Briefkasten, Wildfalle, Anweisungen an Personal) ausgedrückt werden[10]. Dagegen begründet eine unbewusste Zugriffsmöglichkeit ohne jeglichen Besitzerwerbswillen noch keinen Besitz[11].

      Beispiele

- Das niedersächsische Staatsbad auf der Insel Norderney kann zwar an einem Teil des Nordseestrandes unmittelbaren Besitz erlangen (§ 865), muss dies aber für jeden, der sich dafür interessiert, durch Absperrung, Hinweisschild oder Aufstellen von Strandkörben sichtbar machen (BGH 44, 27: verneint unmittelbaren Strandbesitz, weil dafür nichts vorgetragen sei).
- „Findet“ ein Kunde in einem Supermarkt zwischen ausgelegten Waren einen Fünfhunderteuroschein, erlangt er daran keinen Besitz, weil schon der Inhaber des Supermarkts alle Sachen in seinen Geschäftsräumen besitzt. Dass er von der Existenz des Geldscheins nichts weiß, ist solange unschädlich, als der Geldschein nicht an unzugänglicher Stelle seinem Zugriff entzogen ist. Denn für seinen Besitzerwerb genügt hier sein allgemeiner Wille, alle Sachen in Besitz zu nehmen, die in den Geschäftsräumen verloren gehen. Dieser allgemeine Besitzerwerbswille muss allerdings durch geeignete Vorkehrungen sichtbar gemacht werden. Dafür genügt jedoch die Anweisung an das Personal, Fundsachen bei der Geschäftsleitung abzuliefern. Dann aber ist der Kunde mangels Besitzerwerbs weder Finder des Geldscheins nach §§ 965, 973, noch kann er ihn dem Geschäftsinhaber nach § 688 in Verwahrung geben, um ihn später, wenn sich der Verlierer nicht meldet, herauszuverlangen (BGH 101, 186). Eigenen Besitz erlangt der Kunde erst, wenn er den Geldschein nicht abliefert, sondern einsteckt und mit nach Hause nimmt, aber damit bricht er den unmittelbaren Besitz des Geschäftsinhabers und begeht verbotene Eigenmacht nach § 858 I.

      37

      Erlangt wird die tatsächliche Herrschaft entweder durch Übergabe des Vorbesitzers oder ohne Übergabe durch Ergreifen der Sache. Danach unterscheidet man den abgeleiteten vom originären Besitzerwerb, und diese Unterscheidung ist wichtig für den Erwerb des Eigentums vom Nichtberechtigten nach § 932 I 1, denn eine bewegliche Sache, die ohne Willen des Vorbesitzers in andere Hände gelangt, kommt dem Vorbesitzer abhanden und kann deshalb nach § 935 I nicht gutgläubig erworben werden. Originären Besitz ohne Übergabe erlangen der Finder und der Dieb.

      Die Übergabe ist kein Rechtsgeschäft, sondern ein tatsächlicher Vorgang (Realakt), denn sie zielt nicht auf eine Rechtsfolge, sondern erschöpft sich darin, die tatsächliche Sachherrschaft vom alten auf den neuen Besitzer zu übertragen[12].

      Die Vorschriften der §§ 104 ff. über Rechtsgeschäfte sind auch nicht entsprechend anwendbar. Die Übergabe erfordert keine Geschäftsfähigkeit, der natürliche Wille zum Besitzwechsel, verbunden mit dem erforderlichen Verständnis für diesen tatsächlichen Vorgang, genügt vollauf. Bei der Übergabe kann man sich nicht vertreten lassen, aber man kann den Besitz nach § 855 durch Besitzdiener übertragen und erwerben (RN 40). Man kann die Übergabe auch nicht wegen Irrtums, arglistiger Täuschung oder widerrechtlicher Drohung anfechten; entweder ist die Sache übergeben oder sie ist es nicht. Auch darin unterscheidet sich der Besitz vom Eigentum: Besitz überträgt man nach § 854 I durch eine tatsächliche Handlung, Eigentum nach § 929 S. 1 durch ein Rechtsgeschäft, das freilich neben der dinglichen Einigung auch wieder eine Übergabe erfordert.

      38

      Übergabe ist willentliches Geben und Nehmen von Hand zu Hand[13]. Alleinbesitz erwirbt man auf diese Weise nur, wenn der Vorbesitzer seinen unmittelbaren Besitz ersichtlich vollständig aufgibt[14]; andernfalls entsteht nur Mitbesitz[15].

      Beispiele

- Eine Wohnung übergibt man durch Aushändigung aller Wohnungsschlüssel (BGH NJW 79, 714: Bilder in der Wohnung; LM § 854 Nr. 8). Behält man einen Schlüssel zurück, entsteht nur Mitbesitz (BGH NJW 79, 714: Besitzdiener hat Zweitschlüssel; ferner OLG Düsseldorf NJW-RR 96, 839).
- Bestellte Ware übergibt der Lieferant schon durch Abladen vor dem Ladengeschäft; der allgemeine Besitzerwerbswille des Erwerbers genügt (BGH JR 68, 106; ferner DB 71, 40: Warenlager auf Fabrikgelände).

       Noch keine Übergabe ist:

- das Gestatten der Wegnahme; erst die erlaubte Wegnahme vollendet die Übergabe (BGH 67, 209; RG 153, 261);
- der Abschluss eines Treuhandvertrags, solange der Treuhänder das Treugut noch nicht in seiner Gewalt hat (RG 151, 186);
- das Verbringen der beweglichen Sache auf ein umzäuntes Gelände, zu dem der Adressat keinen Schlüssel hat (BGH JR 75, 214).
- Verneint wurde eine Übergabe auch in folgendem Fall: Die Aussteuer der Braut lagert, als die Verlobung in die Brüche geht, im Zimmer des Bräutigams, der im Hause seines Vaters wohnt. Die Herausgabeklage der Braut gegen den Vater des Bräutigams scheitert am fehlenden Besitz des Beklagten (RG 106, 135).

      39

      Nach § 854 II geht der unmittelbare Besitz schon durch die bloße Einigung des Vorbesitzers mit dem Erwerber über, wenn dieser „in der Lage ist, die Gewalt über die Sache auszuüben“. Voraussetzung ist ein Besitz, der dem Zugriff des Erwerbers bereits offen steht. In diesem Sonderfall ersetzt die Einigung die normalerweise erforderliche Übergabe.

      Anders als die Übergabe nach § 854 I ist die Einigung nach § 854 II ein Rechtsgeschäft nach §§ 104 ff., kann stillschweigend durch schlüssiges Verhalten und durch Vertreter geschlossen werden, wegen Geschäftsunfähigkeit nichtig sein und wegen eines Willensmangels angefochten werden. Die Einigung ist aber kein Verpflichtungsvertrag[16], sondern ein dinglicher Vertrag, der unmittelbaren Besitz überträgt, so wie die dinglichen Einigung nach § 929 S. 2 Eigentum überträgt[17].

      Fraglich ist, ob die nichtige oder durch Anfechtung vernichtete Einigung aus der willentlichen Übergabe ein unfreiwilliges Abhandenkommen nach § 935 macht. Dagegen spricht, dass der Vorbesitzer mit dem Besitzverlust tatsächlich einverstanden war.

      Der Vorbesitzer ist mit dem Besitzwechsel nach § 854 II aber nur dann einverstanden, wenn er seinen Besitz erkennbar vollständig aufgeben will[18]. Tatsächlich ergreifen muss der Erwerber die Sache nicht, es genügt, dass er dies jederzeit ohne Hilfe des Vorbesitzers ungehindert tun kann[19].

      Beispiele

- Holz lagert abfuhrbereit im Wald, und der Erwerber hat bereits die Abfuhrerlaubnis des Vorbesitzers (BGH LM Nr. 1).
- Der Heizungsbauer schließt im Neubau Heizkörper noch ohne Anstrich probeweise an („Rohmontage“). Da er damit seinen Willen zur Besitzaufgabe ausdrückt,
Скачать книгу
Librs.Net