Sachenrecht nach Anspruchsgrundlagen. Kurt Schellhammer

Sachenrecht nach Anspruchsgrundlagen - Kurt Schellhammer


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55 II ZVG). - Gestattet der Hofpächter seinem Kreditgeber, die Ernte zu verwerten, so erlangt dieser unmittelbaren Besitz an der Ernte erst mit deren Trennung vom Grund und Boden. Für einen früheren Besitzwechsel nach § 854 II fehlt es an einem „offenen“ Besitz, solange der Pächter die Hofschlüssel behält und weiterhin – wenn auch nach Weisung des Kreditgebers – die Felder bestellt, denn so behält er zumindest unmittelbaren Mitbesitz (BGH 27, 362: auch kein Fall des § 855). - Kurz vor seinem Tod „schenkt“ ein Rechtsanwalt im Krankenhaus seiner Nichte etliche Bilder, die in seiner Wohnung hängen; dort befindet sich auch seine Kanzlei. Damit die Nichte dort vorübergehend wohnen kann, händigt er ihr die Wohnungsschlüssel aus. Einen weiteren Schlüssel hat die Bürovorsteherin der Kanzlei. Da die Witwe und Alleinerbin mit der „Schenkung“ nicht einverstanden ist, klagt die Nichte auf Herausgabe der Bilder. Einzige Anspruchsgrundlage ist § 985. Nach §§ 929, 854 II ist die Nichte nicht Eigentümerin der Bilder geworden. Die Einigung nach § 854 II kann zwar mit der nach § 929 zusammenfallen. Die Nichte hatte aber nie die reale Möglichkeit, die alleinige Sachherrschaft über die Bilder ungehindert auszuüben, denn der Rechtsanwalt hatte seinen unmittelbaren Besitz noch nicht vollständig aufgegeben. Die Erlaubnis, die Bilder abzuholen, verschaffte der Nichte bestenfalls Mitbesitz, denn auch die Bürovorsteherin besaß noch einen Wohnungsschlüssel und vermittelte als Besitzdienerin nach § 855 dem Rechtsanwalt nach wie vor zumindest unmittelbaren Mitbesitz (BGH NJW 79, 714: aber vielleicht Übereignung nach § 930).

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      Stellvertretung nach §§ 164 ff. gibt es nur für den Besitzerwerb nach § 854 II (und nach §§ 868, 870), nicht nach § 854 I. Nur die dingliche Einigung nach § 854 II ist ein Rechtsgeschäft, die Übergabe nach § 854 I hingegen eine tatsächliche Handlung ohne Rechtsfolgewillen[20].

      Oft erfüllt die Rechtsfigur des Besitzdieners, der nach § 855 für seinen Besitzherrn besitzt, auf andere Weise den gleichen Zweck, denn die tatsächliche Sachherrschaft des Besitzdieners wird ohne weiteres dem Besitzherrn zugerechnet (RN 44 ff.). Hat der Besitzdiener auch noch Vertretungsmacht, kann er für seinen Herrn nach §§ 929, 164, 855 sowohl unmittelbaren Besitz als auch Eigentum übertragen und erwerben[21].

      Beispiel

      Der Prokurist kauft und erwirbt namens seines Prinzipals eine neue EDV-Ausstattung für sein Büro. Den Kaufvertrag und die dingliche Einigung nach § 929 S. 1 schließt er kraft Prokura, den Besitz erwirbt er nach § 855 als Besitzdiener. Käufer und Eigentümer wird nach §§ 433, 929 mit § 49 I HGB direkt der Prinzipal, den unmittelbaren Besitz erlangt er nach § 855 (RG 71, 252).

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      Die juristische Person, die überhaupt nur durch ihre Organe (Vorstand, Geschäftsführer) handeln kann, erwirbt auch Besitz direkt durch ihre Organe, ohne dass man dafür § 855 bemühen muss, denn die tatsächliche Sachherrschaft, die das Organ für die juristische Person erlangt, wird, wie es sich für ein Organ gehört, ohne Umschweife der juristischen Person zugerechnet[22]. Wenn aber der Geschäftsführer der GmbH die Sache auch noch nach seiner Abberufung in seiner tatsächlichen Gewalt behält, erwirbt er selbst den unmittelbaren Besitz[23].

      Das gilt auch für OHG und KG; sie sind zwar noch keine juristischen Personen, sondern Gesamthandsgemeinschaften, aber § 124 HGB verselbstständigt sie rechtlich weitgehend[24]. Der Kommanditist jedenfalls hat in aller Regel keinen Besitz an den Sachen der KG[25].

      Im Unterschied zu OHG und KG wurden die Gesellschafter einer BGB-Gesellschaft früher Mitbesitzer (§ 866), wenn nicht die Sachherrschaft nur einem oder einigen Gesellschaftern überlassen war[26]. Für die rechtsfähige Außengesellschaft[27] ist dies überholt, auch sie kann inzwischen wie OHG und KG selbst umittelbaren Besitz erwerben.

      Insolvenz- und andere amtliche Verwalter sowie Testamentsvollstrecker sind weder Vertreter noch Besitzdiener, sondern besitzen selbst die Sachen, die zum verwalteten Sondervermögen gehören (Arg. § 80 I InsO; § 2205 S. 2).

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      Den unmittelbaren Besitz verliert man nach § 856 I entweder freiwillig durch Aufgabe oder unfreiwillig „in anderer Weise“.

      Wie die Besitzergreifung erfordert auch die Besitzaufgabe einen sichtbaren Willensakt, nämlich die willentliche Aufgabe der tatsächlichen Sachherrschaft[28]. Dem Besitzerwerbswillen entspricht der Besitzaufgabewille. Er manifestiert sich entweder in der Übergabe der Sache an einen anderen oder aber in der einseitigen Entledigung, die eine besitzlose Sache hinterlässt.

      Beispiele

- Der alte Kühlschrank wird im dichten Wald entsorgt.
- Der Bankräuber wirft die Pistole in einen Fluss.
- Die entnervte Familie setzt ihren Weihnachtshund an einer Autobahnraststätte aus.
- Das Autohaus übergibt dem Kaufinteressenten das Auto samt Schlüssel zur unbegleiteten Probefahrt für eine Stunde (BGH NJW 2020, 3711: kein Abhandenkommen nach § 935 I).

      Der unmittelbare Besitz ist noch nicht restlos aufgegeben, wenn der bisherige Besitzer noch einen Mitbesitz zurückbehält[29].

      Die Besitzaufgabe bleibt in aller Regel auch dann freiwillig, wenn sie durch Irrtum, arglistige Täuschung oder widerrechtliche Drohung bestimmt ist. Dies hat zur Folge, dass die Sache nicht abhanden kommt (§ 935 I), sondern gutgläubig erworben werden kann[30].

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      Der Besitzverlust „in anderer Weise“ als durch Aufgabe ist stets ein unfreiwilliger: Die Sache geht verloren oder wird gestohlen und kommt so dem Besitzer abhanden (§ 935 I). Unfreiwillig ist auch die mit unwiderstehlicher Gewalt oder Drohung erzwungene „Besitzaufgabe“[31].

      Wie der Besitzerwerb erfordert auch der Besitzverlust eine gewisse Dauer und Stärke. § 856 II stellt klar, dass „eine ihrer Natur nach vorübergehende Verhinderung in der Ausübung der Gewalt“ den unmittelbaren Besitz noch nicht beendet.

      Beispiele

- Man bleibt auch dann noch unmittelbarer Besitzer seines Autos, das verschlossen im Freien abgestellt ist, wenn man eine sechswöchige Flugreise nach Übersee antritt.
- Der Dienstherr bleibt auch dann Besitzer des Dienstwagens, wenn der angestellte Fahrer damit unerlaubt eine Wochenendspritztour unternimmt (RG 52, 118).
5. Der Besitzdiener und sein Herr
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