Fälle zum Medizin- und Gesundheitsrecht, eBook. Silvia Deuring
Auslegung der Klausel ist möglich, da schon der Begriff „Kassenpatient“ intendiert, dass vom Grundsatz her jedenfalls eine Krankenversicherung bestehen muss. Anderseits könnte sie bei einem weniger wörtlichen Verständnis des Begriffs „Kassenpatient“ nur die Fälle erfassen, in denen gar kein Versicherungsschutz besteht („Scheinkassenpatient“). Die Formulierung des § 8 lässt folglich beide Interpretationsmöglichkeiten zu. Zu prüfen ist also, ob die Unwirksamkeit der Klausel dadurch erreicht werden kann, indem ihr die Bedeutung beigelegt wird, wonach sie gerade den Fall der M bzw. der T, also den des „Scheinkassenpatienten“ erfasst, und die M damit mit einer Zahlungspflicht belegt wird. Dann könnte durch kundenfeindliche Auslegung erreicht werden, dass derartige Klauseln kassiert werden.
Als überraschend hat die Rechtsprechung eine solche Klausel jedoch nur dann bewertet, wenn sie einem „echten“ Kassenpatienten vorgelegt wird, bei dem grundsätzlich Versicherungsschutz besteht. In einem solchen Fall muss der Patient nicht mit einer Inanspruchnahme rechnen, sondern darf redlicherweise von einer Kostenübernahme ausgehen.[16] Das Risiko, dass das Krankenhaus die Krankenkasse nicht als Kostenschuldner in Anspruch nehmen kann, insbesondere weil die Kasse die Behandlung als nicht notwendig, unzweckmäßig oder unwirtschaftlich ansieht, kann nicht uneingeschränkt dem Patienten aufgebürdet werden.[17] Anders sei dies aber in Fällen wie dem vorliegenden, namentlich bei gänzlichem Fehlen einer Versicherung („Scheinkassenpatient“). In diesem Fall müsse der Patient, der gar keine Versicherung hat und dem die Klausel vorgelegt wird, damit rechnen, dass der Krankenhausträger ihn mangels sonstiger Rückgriffmöglichkeiten persönlich in Anspruch nimmt.[18] Teils wurde die Unwirksamkeit der Klausel aber auch im Fall von vollständig fehlendem Versicherungsschutz erwogen, wenn beide Parteien ungeprüft davon ausgehen, dass Versicherungsschutz besteht.[19]
Die besseren Argumente sprechen jedoch dafür, im Fall der M bzw. der T das Überraschungsmoment abzulehnen: Wer gar keine Krankenversicherung hat, darf nicht darauf vertrauen, Leistungen kostenlos in Anspruch nehmen zu können. Vielmehr muss der Patient dafür Sorge tragen, dass er überhaupt Krankenversicherungsschutz hat; dies fällt in seinen Verantwortungsbereich, sodass es aus seiner Sicht auch nicht ungewöhnlich und überraschend ist, die Kosten selbst tragen zu müssen, wenn er dies versäumt. Damit ist durch kundenfeindliche Auslegung keine Unwirksamkeit nach § 305c Abs. 1 BGB zu erreichen.
dd) Inhaltskontrolle
Jedoch könnte § 8 der Allgemeinen Vertragsbedingungen auf der Grundlage der Auslegung, wonach sie den Fall des „Scheinkassenpatienten“ erfasst, der Inhaltskontrolle nicht standhalten, aufgrund unangemessener Benachteiligung gegen die §§ 307 ff. BGB verstoßen und damit im Ergebnis unwirksam sein.
Auslegungsmaßstab ist bei §§ 307 ff. BGB die Verständnismöglichkeit eines rechtlich nicht vorgebildeten Durchschnittskunden. Entscheidend sind der objektive Inhalt und typische Sinn der betreffenden Klausel, so wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der regelmäßig beteiligten Verkehrskreise verstanden werden.[20] Hierbei ergeben sich keine Besonderheiten im Vergleich zur Auslegung i.R.v. § 305c Abs. 1 BGB: Die Klausel kann insbesondere so verstanden werden, dass sie den Fall der M erfasst.
Zwar sind die vorrangig zu prüfenden speziellen Klauselverbote der §§ 308, 309 BGB nicht einschlägig, jedoch könnte sich die Unwirksamkeit aus § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB ergeben, wenn die Klausel den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt (Abs. 1 S. 1), insbesondere wenn sie mit dem wesentlichen Grundgedanken der Regelung, von der sie abweicht, nicht vereinbar ist (Abs. 2 Nr. 1). Dabei ist zu beachten, dass, wenn AGB gegenüber verschiedenen Verkehrskreisen verwendet werden, deren Interessen, Verhältnisse und Schutzbedürfnisse generell unterschiedlich sind, zur Beurteilung der Angemessenheit der AGB die Abwägung also in den durch die am Sachgegenstand orientierte typische Interessenlage gebildeten Vertrags- oder Fallgruppen vorzunehmen ist. Dies kann zu gruppentypisch unterschiedlichen Ergebnissen führen.[21]
Hieraus ergibt sich, dass die Klausel in bestimmten Fällen durchaus unwirksam ist, nicht aber im hier Vorliegenden.
So liegt zwar in formularmäßigen Vereinbarungen einer Zahlungspflicht von grundsätzlich krankenversicherten Personen bei Verweigerung der Übernahme durch die Kasse im Einzelfall eine unzulässige Abweichung i.S.v. § 307 Abs. 2 Nr. 1 von §§ 39, 107 ff. SGB V (Behandlung im System der GKV durch Sachleistung ohne Zahlungsverpflichtung des Patienten, sondern Vergütung des Krankenhausträgers nach dem SGB V), nicht jedoch, wenn eine solche Zahlungspflicht für Personen ohne jeden Versicherungsschutz begründet wird. Nur bei grundsätzlich krankenversicherten Personen ist eine solche Klausel unwirksam, da die Einbindung von Krankenhäusern gem. § 109 Abs. 1 S. 3 und § 112 SGB V in ein System öffentlich-rechtlicher Verträge, die das Vergütungsverhältnis abschließend regeln, für abweichende privatrechtliche Regelungen keinen Raum lässt. Durch Zahlungsklauseln soll aber eine „Auffangverbindlichkeit“ geschaffen und ein zusätzlicher Schuldner gefunden werden, für den Fall, dass die Krankenkasse die Kosten nicht übernimmt. Dies ist mit dem gesetzlichen Leitbild, dass gerade nicht der Patient selbst Vergütungsschuldner sein soll, nicht vereinbar. Diese Abweichung ist nicht hinnehmbar, wenn beide Parteien davon ausgehen, dass eine Behandlung im System der gesetzlichen Krankenversicherung gewollt ist.[22] Auf einen Fall wie den vorliegenden trifft diese Argumentation jedoch gerade nicht zu, denn wenn kein Sozialversicherungsverhältnis besteht, wird von §§ 39, 107 ff. SGB V mangels Anwendbarkeit selbiger auch nicht abgewichen.
Im Übrigen lässt sich die Unwirksamkeit auch nicht über § 307 Abs. 1 S. 1 BGB begründen: Eine unangemessene Benachteiligung nach Abs. 1 S. 1 liegt vor, wenn der Verwender durch einseitige Vertragsgestaltung missbräuchlich versucht, seine eigenen Interessen durchzusetzen, ohne die gebotene Rücksicht auf die Belange der anderen Vertragspartei zu nehmen.[23] Auch dies ist nur dann der Fall, wenn es um die Zahlungspflicht einer grundsätzlich krankenversicherten Person geht: Die Klausel erweckt in Fällen, in denen ein Patient grundsätzlich Versicherungsschutz hat, den Eindruck, als müsse der Patient in jedem Fall persönlich für die Kosten eintreten, wenn eine Krankenkasse sich weigert, die Kosten zu übernehmen. Dies ist aber nach den Grundsätzen der Rechtsprechung überhaupt nur dann gerechtfertigt, wenn die Krankenkasse berechtigt die Kostenübernahme verweigert. In Zweifelsfällen muss stets primär versucht werden, die Versicherung in Anspruch zu nehmen, was durch die Klausel nicht ausreichend zum Ausdruck kommt.[24] Diese Argumentation trifft aber wiederum nicht zu, wenn der Patient die ärztliche Leistung ohne irgendeinen Versicherungsschutz in Anspruch nimmt.
Die Klausel ist folglich nicht nach §§ 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam, jedenfalls nicht im Verhältnis zu dem Verkehrskreis der „Scheinkassenpatienten“, dem T angehört.
b) Keine Anwendbarkeit durch Auslegung zu Lasten des Verwenders, § 305c Abs. 2 BGB
Mit dem BGH ist aber der Grundsatz der Verwenderfeindlichkeit des § 305c Abs. 2 BGB jedenfalls (ergänzend) in der Form zur Anwendung zu bringen, dass die Klausel im Fall der M eben so verstanden werden muss, dass sie nur Personen betrifft, die tatsächlich versichert sind und bei denen nur im Einzelfall eine Übernahme verweigert wird.[25] Zwar kann dann nicht die Unwirksamkeit der Klausel erzielt werden, aber es kann jedenfalls im Ergebnis durch kundenfreundliche Auslegung dahingehend, dass die Klausel ihren Verkehrskreis gar nicht erfasst, ebenso erreicht werden, dass die M keine Zahlungspflicht trifft.
c) Zwischenergebnis
Es besteht auch kein Zahlungsanspruch der Stadt S aus § 8 der Allgemeinen Vertragsbedingungen, da diese Klausel den vorliegenden Fall bei verwenderfeindlicher Auslegung nicht erfasst.
3. Ergänzende Vertragsauslegung
Ein Zahlungsanspruch könnte sich aus einer ergänzenden Auslegung des Behandlungsvertrages ergeben. Eine ergänzende Vertragsauslegung kommt dann in Betracht, wenn eine Lücke im Vertrag nicht durch einfache Auslegung zu füllen ist. Aufgabe des Instituts ist es, den Vertrag „zu Ende zu denken“[26].
Voraussetzung der ergänzenden Vertragsauslegung ist eine Regelungslücke,