Fälle zum Medizin- und Gesundheitsrecht, eBook. Silvia Deuring
im Rahmen einer sozialversicherungsrechtlichen Versorgung der T. Da keine Krankenversicherung die Kosten übernimmt, was die Parteien aber nicht vorhergesehen haben, liegt eine solche ausfüllbedürftige Lücke im Vertrag vor.
Im Rahmen der Auslegung ist unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu untersuchen, was redliche und verständige Parteien in Kenntnis der Regelungslücke bei Abwägung ihrer beiderseitigen Interessen vereinbart hätten.[28] Ein Wille der M, wonach sie im Falle eines fehlenden Versicherungsschutzes die Behandlung selbst bezahlen möchte, ist nicht ersichtlich, zumal keinerlei Verständigung hierüber erfolgte. Die M kümmert sich seit jeher um ihre Tochter und ist nicht erwerbstätig, verfügt daher über keine eigenen Einkünfte. Schon aufgrund dieses Umstandes erscheint es fernliegend anzunehmen, die M wolle die Behandlungskosten der T selbst tragen. Überdies gab die M an, es bestehe ein gesetzlicher Krankenversicherungsschutz. Damit zeigte sie, dass sie von einer anderweitigen Übernahme der Kosten ausging, was sich nicht mit einem Willen zur Selbstzahlung vereinbaren ließe.[29] Eine ergänzende Auslegung ergibt folglich auch keinen Zahlungsanspruch der Stadt S gegen M.
4. Zwischenergebnis
Zwar besteht ein einseitig verpflichtender Behandlungsvertrag, § 630a Abs. 1 BGB, dieser enthält jedoch keine entsprechende Vergütungsvereinbarung, aus welcher ein Zahlungsanspruch hergeleitet werden könnte.
II. Anspruch der Stadt S auf Vertragsanpassung, § 313 Abs. 1 BGB
Die Stadt S könnte einen Anspruch auf Anpassung des Behandlungsvertrages aus § 313 Abs. 1 BGB haben. Dies setzt voraus:
1. Anwendbarkeit des § 313 BGB
Zunächst müsste § 313 BGB anwendbar sein. Im Falle des vorliegenden beiderseitigen Irrtums stellt sich die Frage zum Verhältnis zur Irrtumsanfechtung.[30] Während heute ein grundsätzlicher Vorrang der Irrtumsregeln anerkannt ist, gilt § 313 Abs. 2 BGB als Spezialvorschrift für den gemeinschaftlichen Irrtum.[31] Ferner ist vorliegend eine grundsätzlich vorrangige[32] ergänzende Vertragsauslegung nicht zielführend. Die Regeln über die Störung der Geschäftsgrundlage sind folglich anwendbar.
2. Vertragliches Schuldverhältnis
Ein vertragliches Schuldverhältnis liegt mit dem geschlossenen Behandlungsvertrag vor.
3. Bestehen eines gesetzlichen Versicherungsschutzes der T als Geschäftsgrundlage
Das Bestehen eines gesetzlichen Versicherungsschutzes der T müsste Geschäftsgrundlage des Behandlungsvertrages geworden sein. Geschäftsgrundlage sind die gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragspartner, die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhoben worden sind, die beim Abschluss aber zutage getreten sind oder die dem Geschäftspartner erkennbaren und die von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der anderen Partei von dem Vorhandensein und dem künftigen Eintritt oder Nichteintritt bestimmter Umstände, auf denen sich der Geschäftswille der Parteien aufbaut.[33]
Bei Vertragsschluss hatten beide Parteien die gemeinsame Vorstellung, die Kosten der medizinisch indizierten Behandlung der T würden von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. Dies wurde nicht explizit Vertragsgegenstand. Gleichwohl war für M erkennbar, dass diese Annahme für den Krankenhausträger mangels anderweitiger Zahlungsansprüche die Grundlage für die Behandlung der T war, denn die M konnte nicht davon ausgehen, dass das Krankenhaus unentgeltlich tätig werden würde. Mithin stellt das Bestehen eines gesetzlichen Versicherungsschutzes der T eine Grundlage des Behandlungsvertrages dar.
4. Schwerwiegende Veränderung der Umstände, § 313 Abs. 1 BGB (Reales Element)
Dieser Umstand müsste sich nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben, § 313 Abs. 1 BGB. Dem steht es gleich, wenn sich wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, als falsch herausstellen, § 313 Abs. 2 BGB. Die Parteien dürften erst nach Vertragsschluss erkannt haben, dass ihre Vorstellungen unzutreffend gewesen sind.[34] Bei Schluss des Behandlungsvertrages gingen beide Parteien von dem Bestehen eines gesetzlichen Krankenversicherungsschutzes der T aus. Erst später stellte sich heraus, dass für V keine Versicherung und damit auch keine Familienversicherung zu Gunsten der T bestand.
5. Kein Vertragsschluss bei Kenntnis (Hypothetisches Element)
Hätten die Parteien diesen Umstand gekannt, ist davon auszugehen, dass sie den Vertrag nicht oder nicht so geschlossen hätten. Hier ist offensichtlich, dass die Stadt S den Vertrag mit M nur mit einer Verpflichtung zur Selbstzahlung der Behandlungskosten geschlossen hätte, wenn sie von der fehlenden Sozialversicherung der T Kenntnis gehabt hätte und somit kein anderweitiger Vergütungsanspruch bestünde.
6. Unzumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag, § 313 Abs. 1 Hs. 2 BGB (Normatives Element)
Schließlich müsste die Vertragsanpassung zur Vermeidung eines untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit nicht zu vereinbarenden und damit der betroffenen Partei nach Treu und Glauben nicht zuzumutenden Ergebnisses unabweislich erscheinen.[35] Fraglich ist also, wem das Risiko der Kostentragung ohne Regressmöglichkeiten aufzubürden ist. Der Krankenhausträger hat regelmäßig keinen Einblick in die persönlichen und sozialversicherungsrechtlichen Verhältnisse sowie die Vermögensverhältnisse des Patienten. Der Patient weiß regelmäßig, ob und bei wem eine Krankenversicherung besteht. Bestehen Zweifel, kann der Patient diese ohne Schwierigkeiten durch eine formlose Anfrage bei der GKV ausräumen. Im Falle der Einlieferung eines Patienten ergibt sich folglich keine Pflicht des Krankenhausträgers, sich ohne Anlass mit der finanziellen Lage oder dem sozialversicherungsrechtlichen Status eines Patienten zu befassen. Ferner ist in diesem Fall zu berücksichtigen, dass T aufgrund eines medizinischen Notfalls in die Klinik eingeliefert wurde. In diesem Fall ist es schon aus praktischen Gründen nicht möglich, die Angaben des Patienten vor Behandlungsbeginn zu überprüfen, denn in Notfällen ist ein schnelles medizinisches Eingreifen geboten, ein Zuwarten auf etwaige Verwaltungsüberprüfungen wäre nicht vertretbar. Es ist also nicht Aufgabe des Krankenhausträgers, für den Versicherungsschutz des Patienten Sorge zu tragen.[36] Da das Risiko der Tragung der Kostenlast eher dem Patienten zuzuweisen ist, ist es der Stadt S als Träger des Krankenhauses nicht zumutbar, die Kosten zu tragen.
Der BGH geht also zu Recht davon aus, dass der Weg der Anpassung beschritten werden kann. Die Rechtsfolge ist freilich auf den ersten Blick verblüffend: Es wird nämlich das Entgelt für die allgemeinen Krankenhausleistungen (§§ 7 ff. KHEntgG) geschuldet, was exakt auf den eingeklagten Betrag hinausläuft. Auch wenn die Patienten mit einer solchen Kostenbelastung nicht rechnen, erscheint das Ergebnis gleichwohl angemessen. Denn andernfalls würde das Risiko eines bestehenden Versicherungsschutzes einseitig auf die Behandlungsseite abgewälzt werden. Dass die Linie des BGH angemessen ist, zeigt auch folgende Kontrollüberlegung: Würde man den Krankenhausvertrag als unwirksam ansehen, stünden der Behandlungsseite immer noch Aufwendungsersatzansprüche (§§ 677, 683, 670 BGB), hilfsweise bereicherungsrechtliche Ansprüche auf Wertersatz (§§ 812, 818 Abs. 2, ggf. mit § 684 S. 1 BGB) zu, und beides dürfte wohl wieder auf das Entgelt für gesetzlich versicherte Patienten hinauslaufen. Zudem verbleibt zu ihren Gunsten ein Rückgriff auf die Vorschriften über den Vollstreckungsschutz.[37]
7. Rechtsfolge
In der Folge hat die Stadt S einen Anspruch auf Anpassung des Vertrages gemäß § 313 Abs. 1 BGB dahingehend, dass der Behandlungsvertrag wieder als synallagmatischer Vertrag mit einem Vergütungsanspruch als Gegenleistungspflicht auflebt. Die Höhe der Vergütung richtet sich nach den gesetzlichen Vorgaben des KHG sowie des KHEntgG (§§ 7, 9 KHEntgG, § 17b KHG).
III. Ergebnis
Die Stadt S hat einen Anspruch auf Vertragsanpassung und damit auf Zahlung der Behandlungskosten gegen die M aus dem angepassten Behandlungsvertrag.
C.