Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
Ländern – und unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich das ehemalige Jugoslawien nicht von Mittel- und Ost-Europa – ein besonderer Stil eigen, den man dann statt formalistisch als „textualistisch“ bezeichnen könnte. Es ist das Überwiegen von wörtlichen Auslegungsmethoden und rein textlichen Bezugnahmen ohne Rücksicht auf den sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Kontext oder auf die in der Verfassung angelegten Ziele und Werte.
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Unter diesen Umständen ist eine Annäherung an den europäischen Rechtsraum nur bedingt möglich. Entweder werden die Vorgaben des EGMR zur Auslegung, Umsetzung und Anwendung der Menschenrechte sowie der Vorrang und die Anwendung des EU-Rechts als Fassade, aber ohne ihre Substanz, befolgt oder sie werden nur insoweit beachtet, als es das innerstaatliche Recht und vor allem die Verfassung erlaubt, da auch an eine großzügige Interpretation der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen nicht zu denken ist.
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Aus all diesen Gründen stellt das Abstandnehmen der ex-jugoslawischen Verfassungsgerichte von der herkömmlichen Rechtstradition ein besonders wichtiges Indiz für deren Bereitschaft dar, an dem durch den europäischen Rechtsraum implizierten Verbund teilzunehmen. Dieser Abschied mag umso schwieriger erscheinen, als der europäische Rechtsraum seinerseits keine homogene Rechtskultur[39] besitzt, sondern allenfalls Gemeinsamkeiten und Harmonisierungen.[40] Gewisse Grundprinzipien sind jedoch unabdingbar: im Rahmen der EU sind dies die in Art. 2 EUV genannten Grundsätze, im Rahmen der EMRK deren (ganz ähnliche) Werte[41] und die dort garantierten Rechte. Diese Standards sind sowohl für die rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit als auch für die Rolle der Verfassungsgerichte im politischen Prozess und im Rechtsleben relevant.
III. Die rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichte: jugoslawisches Erbe oder/und Aufbruch zum europäischen Rechtsraum?
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Es ist nicht immer leicht, die nunmehr geltenden Vorschriften über die Verfassungsgerichtsbarkeit entweder dem historischen Erbe oder dem Transformationsprozess zuzuordnen, so zahlreich und unterschiedlich sind die Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei sind vor allem die Unabhängigkeit, Legitimität und Autorität der Gerichte fördernde Faktoren wesentlich. Dies möchte ich hier näher anhand der institutionellen Stellung (1.), der Kontrollbefugnisse (2.) und der Entscheidungen (3.) ausführen.
1. Die Verfassungsgerichte als Institutionen
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In den ehemals jugoslawischen Staaten ist die Verfassungsgerichtsbarkeit wesentlich älter als in den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern. Diese lange Tradition hat dazu geführt, dass viele der heute noch geltenden Regelungen aus jugoslawischem Erbe stammen. Ein kurzer historischer Überblick soll deshalb als Einleitung für die nähere Erläuterung der gegenwärtigen institutionellen Gestalt dienen.
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Ausschlaggebender Grund für die Errichtung eines Verfassungsgerichts im Bund und den sechs Republiken der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien durch die Verfassung von 1963[42] war, wie bereits erwähnt, die Einführung der Selbstverwaltung. In einem sozialistischen Staat, wo die Einheit der politischen Macht hochgehalten wird, mutet diese Lösung höchst heterodox an und wurde auch von der Lehre zum Teil heftig angegriffen. Doch verfocht nicht nur Kardelj, der verfassungsrechtliche „Chef-Ideologe“, die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit,[43] sie hatte auch durchaus praktischen Erfolg und wurde nach der Reform von 1971 durch die Verfassung von 1974 weitgehend bestätigt.
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Das Bundesverfassungsgericht, ein Verfassungsorgan der SFRJ, bestand zunächst aus elf Bundesrichtern, die vom Staatspräsidenten vorgeschlagen und vom Bundesrat gewählt wurden. Dies galt auch für die Wahl des Vorsitzenden. Die Gesamtzahl der Bundesverfassungsrichter wurde auf vierzehn erhöht, nachdem die autonomen Provinzen ab 1971 ihr eigenes Verfassungsgericht erhalten hatten. Sie wurden von nun an von den Republiken (zwei aus jeder Republik) und den Provinzen (einer aus jeder Provinz) bestellt. Außerdem wurde das Rotationssystem für den Gerichtsvorsitz eingeführt, der ab 1981 im Jahresturnus wechselte. Das Richtermandat betrug acht Jahre,[44] wobei die Hälfte der Richterstellen alle vier Jahre neu besetzt wurde. Von den Kandidaten wurde keine besondere berufliche Qualifikation verlangt. Eine Absetzung war nur in abschließend aufgeführten Fällen möglich. Ganz offensichtlich war die Unabhängigkeit[45] des Gerichts unzureichend gesichert: Zum ersten wegen der Kontrolle durch die Partei und der Parteimitgliedschaft der Richter; zum zweiten konnte die dezentralisierte Richterbestellung zur Abhängigkeit der Bundesverfassungsrichter von der Republik oder Provinz führen, die sie ernannten.
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Die Frage, worin sich die heutigen Lösungen in den ex-jugoslawischen Staaten von diesem historischen Modell unterscheiden, erscheint umso wichtiger, als die institutionelle Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit einen besonders bedeutenden Faktor für die Vitalität und damit die Legitimierung der Verfassungsgerichte bildet. Wie sind also die Zusammensetzung der Verfassungsgerichte, das Richterwahlverfahren, das richterliche Mandat und seine Ausführung geregelt?
a) Zusammensetzung
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In der Mehrzahl der ex-jugoslawischen Länder besteht das Verfassungsgericht aus neun Richterinnen und Richtern; nur in Kroatien und Serbien ist die Anzahl höher.[46] Besonders zu erwähnen sind unter diesem Gesichtspunkt die Frage der ethnischen Zugehörigkeit bei der Zusammensetzung der Gerichte, in gewisser Weise ein Erbe der Vergangenheit, sowie die hybriden Gerichte in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo, die in Zusammenhang mit dem Transformationsprozess zu sehen sind.
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Die Frage der Ethnizität beeinflusst die Zusammensetzung der Verfassungsgerichte im Kosovo[47] und in Mazedonien[48] naturgemäß weniger als die des bosnischen Verfassungsgerichts.[49] Im Kosovo stammen in der Regel zwei und in Mazedonien drei der Richter aus den nationalen Minderheiten. Die bosnische Regelung dagegen zeigt eine enge Verwandtschaft mit der jugoslawischen Verfassung von 1974. In Bosnien-Herzegowina werden heute vier der sechs nationalen Richter vom Parlament der Föderation Bosnien und Herzegowina und zwei vom Parlament der Republika Srpska (RS) bestellt. Das zentralstaatliche Parlament spielt bei der Richterwahl keine Rolle, auch wenn seine Gesetze vom Verfassungsgericht geprüft werden können. Damit besteht die Gefahr einer Abhängigkeit des Gerichts von den Gliedstaaten, die zwar womöglich durch die lange Amtszeit bis zum Erreichen der Altersgrenze von 70 Jahren[50] etwas gemildert wird, aber doch die schwache Position des Zentralstaats unterstreicht. Außerdem wirkt sich diese Regelung auf die ethnische Zusammensetzung aus, da es sich bei den aus der Föderation gewählten Richtern regelmäßig um zwei Bosniaken und zwei Kroaten handelt, während die beiden in der RS Gewählten Serben sind. Das Resultat ist sowohl eine beachtliche Politisierung als auch eine ethnische Polarisierung, die bei politisch wichtigen Entscheidungen immer wieder zum Tragen kommt.[51] Und doch wird dieses jugoslawische Erbe oft als Element oder gar als Voraussetzung des Transformationsprozesses angesehen.[52] Es gehört heutzutage unzweifelhaft zum Kern der bosnischen Verfassung.
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Im Gegensatz dazu stellt sich die Hybridität als Element der Internationalisierung der kosovarischen und der bosnischen Verfassung dar. Die Präsenz internationaler Richter wird von der bosnischen Verfassung ausdrücklich vorgeschrieben, während sie im Kosovo lediglich in die verfassungsrechtlichen Übergangsregelungen[53] aufgenommen wurde und seit 2018, als das Mandat von vier Richtern endete, nicht mehr besteht. In beiden Ländern kommen bzw. kamen bis 2018 zu den sechs nationalen Richtern drei internationale hinzu. Letztere werden in Bosnien-Herzegowina vom Präsidenten des EGMR in Konsultation mit der bosnischen Präsidentschaft, im Kosovo durch den internationalen Zivilrepräsentanten