Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
In beiden Ländern fallen die Stellungnahmen zum Einfluss der internationalen Richter und deren Beitrag zur Unabhängigkeit und Legitimierung des Gerichts unterschiedlich aus. Zwar wird jeweils die Expertise internationaler Richter und die Idee des pouvoir neutre unterstrichen, gleichwohl scheint nunmehr die Meinung vorzuherrschen, dass die nationalen Richter inzwischen in der Lage sind, allein das Ansehen und die Autorität des Gerichts zu wahren.[54] In Bosnien-Herzegowina ist der Wunsch nach einem rein national besetzten Verfassungsgericht wesentlich stärker ausgeprägt als im Kosovo, obwohl in der bosnischen Verfassung Hybridität und Ethnizität so eng miteinander verbunden sind, dass es schwierig – bzw. unmöglich – ist, sozialistische Kontinuität und demokratische Transformation auseinander zu halten. Im Kosovo hingegen, wo zwar seit 2018 keine internationalen Richter mehr im Verfassungsgericht sitzen, war die internationale Beteiligung immer angesehener als in Bosnien.
b) Wahlverfahren und Mandat
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In der Perspektive des europäischen Rechtsraums und vom demokratischen Gesichtspunkt aus scheint die Wahl durch das Parlament, wenn möglich sogar mit einer qualifizierten Mehrheit, erstrebenswert.[55] Gleichwohl führt dieser Wahlmodus fast unausweichlich zu einer beträchtlichen Politisierung der Gerichte. Dies gilt auch in Bezug auf die Verfassungsgerichte ex-Jugoslawiens, denn mit Ausnahme von Serbien und dem Kosovo haben sich alle ehemaligen jugoslawischen Staaten für eine parlamentarische Richterwahl entschieden.
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Die Richterwahl findet teilweise nach alten jugoslawischen Rezepten statt. Das heißt zum einen, dass die jeweiligen Vorschriften nichts oder wenig über die Auslese der Kandidaten und deren fachliche Kompetenzen aussagen und dass zum anderen für die Wahl eine einfache Mehrheit vorgesehen ist. Letzteres ist der Fall in Slowenien, Bosnien-Herzegowina und
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In Montenegro und Kroatien wurden kürzlich die Regelungen zur Richterwahl reformiert. Die Auslese der Kandidaten wird insbesondere durch Anhörungen sowie Anforderungen bezüglich der beruflichen Qualifikation – wie viel Erfahrung, welcher berufliche Hintergrund – sehr viel deutlicher vorgegeben. Ferner ist jeweils eine Zweidrittelmehrheit im Parlament für die dreizehn kroatischen und die sieben montenegrinischen Richterinnen und Richter vorgeschrieben. Nähert sich diese Art der Regelung deutlich den europäischen Standards, so ist doch zu beachten, dass die hier interessierenden Staaten noch keine konsolidierten Demokratien sind und dass infolgedessen der politische Druck intensiv sein kann. So erklärt sich wohl, dass das kroatische Parlament mehrmals nicht in der Lage war, die notwendige Mehrheit zur Wahl zu erreichen und das Verfassungsgericht über immer weniger Richterinnen und Richter verfügte. Kurz vor seinem mutmaßlichen Kollaps mangels Besetzung konnten im Juni 2016 gleich zehn Personen erneut oder erstmalig ins Richteramt gewählt werden, so dass das Gericht jetzt mit dreizehn Mitgliedern besetzt ist. Ob es nunmehr gelingen wird, der Politisierung Einhalt zu gebieten, scheint allerdings fraglich. Zurzeit (2018) amtieren sechs ehemalige Politikerinnen und Politiker und sechs Richterinnen und Richter bzw. Anwältinnen und Anwälte sowie ein Rechtswissenschaftler; sechs von ihnen besitzen einen Doktortitel und einer ist Professor. Mehrere Skandale ohne Konsequenzen für die betroffenen Verfassungsrichterinnen und -richter haben im Übrigen das Ansehen des Verfassungsgerichts beschädigt.[58] Der berufliche Hintergrund der montenegrinischen Verfassungsrichterinnen und -richter stellt sich 2018 folgendermaßen dar: eine Richterin und ein Richter, zwei Politiker, eine Referentin und ein Referent im Verfassungsgericht und ein Professor, der gleichzeitig Führungsstellen in der Industrie bekleidete.
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Im Kosovo und in Serbien gilt ein anderes Bestellungsverfahren. Im Kosovo wurden zunächst vier und jetzt sieben nationale Verfassungsrichter im Zusammenwirken von einer Zweidrittelmehrheit im Parlament mit dem Staatspräsidenten ernannt. Die beiden übrigen aus den Minderheiten kommenden Richter werden von einer einfachen Mehrheit, jedoch mit Zustimmung der Mehrheit der die Minderheiten repräsentierenden Abgeordneten gewählt (sogenannte „Badinter-Mehrheit“). Von diesen sind derzeit (2018) drei Professoren, die als Diplomat und Regierungsberater aktiv in der Politik mitgewirkt haben, zwei waren als Juristinnen in NGOs oder internationalen Organisationen beschäftigt, einer war Rechtsberater der Regierung und verschiedener internationalen Organisationen, einer war Rechtsanwalt, Richter und Minister, einer war Staatsanwalt und die Präsidentin sowie ein Richter waren im diplomatischen Dienst und in der Rechtsberatung in einer NGO tätig; der serbische Richter war Referent am Verfassungsgericht und in der Zollverwaltung tätig, ihm droht eine Gefängnisstrafe in Serbien wegen Korruption.[59] Die Karrieren der bis 2018 amtierenden internationalen Richterin bzw. des internationalen Richters[60] sind beeindruckend: sie waren beide sowohl in ihrem Heimatland an Gerichten als auch in der Rechtswissenschaft tätig und arbeiteten bereits davor im Ausland an internationalisierten und internationalen Gerichten.
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Die serbische Lösung stellt eine bedeutsame Ausnahme dar. Italien ist hier das Vorbild,[61] da die fünfzehn Verfassungsrichter von den drei Gewalten, dem Parlament, dem Staatspräsidenten und dem Kassationshof, gewählt oder ernannt werden, wobei jede Institution fünf Personen aus einer Liste von zehn auswählt. Allerdings ist weder ersichtlich, wie diese Listen zustande kommen noch wie die berufliche Qualifizierung der Kandidaten bewertet wird. Anscheinend hat diese gemischte Ernennung die Politisierung keineswegs vermindert und auch die Unterbesetzung des serbischen Verfassungsgerichts nicht verhindert.[62] Gegenwärtig (2018) stellt sich das berufliche Profil als recht ausgeglichen dar, da sieben der Richterinnen und Richter aus Gerichten kommen, sieben aus akademischen Kreisen und eine aus einer Beamtenstellung in der Politik. Es ist also festzuhalten, dass keines dieser Wahlverfahren wirklich befriedigend erscheint: der Kontext von noch nicht konsolidierten Demokratien mit politischen „Unsitten“ aus rechtsnihilistischen Überbleibseln scheinen dem im Wege zu stehen. Dennoch sind Annäherungen an die Standards des europäischen Rechtsraums zu verzeichnen, obwohl auch hier zum Teil Verbesserungen wünschenswert wären.
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Im Hinblick auf das Richtermandat sind für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts drei Faktoren erheblich: die Länge des Mandats, die Möglichkeit der Wiederwahl und einer vorzeitigen Beendigung.
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In den meisten der hier besprochenen Länder beträgt die Dauer des Richtermandats neun Jahre, in Kroatien nur acht, in Montenegro dagegen zwölf und in Bosnien-Herzegowina lebenslang, das heißt bis zum Alter von siebzig Jahren. Nur in Serbien und Kroatien ist eine Wiederwahl möglich. Die richterliche Unabhängigkeit soll des Weiteren dadurch geschützt werden, dass das Mandat nur aus wenigen abschließend aufgezählten Gründen vorzeitig enden kann. Diese sind Rücktritt, Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder Unfähigkeit, das Amt weiter zu bekleiden, wobei Unfähigkeit sowohl in einer Krankheit als auch in einer beruflichen Nachlässigkeit bestehen kann. Die serbische Verfassung nennt daneben auch Interessenskonflikte. Bisher sind diese Vorschriften nur in Bosnien-Herzegowina