Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
die Prüfung der Entitätenverfassungen und -gesetze, fügt aber hinzu, dass diese Liste nicht abschließend sei. Daraus folgt, dass das Verfassungsgericht normalerweise nur Gesetze und Verfassungen der Entitäten kontrollieren kann und nicht, wie überall sonst in den ex-jugoslawischen Staaten, alle allgemeinen Akte. Gleichwohl hat das Gericht eine Ausnahme für diejenigen untergesetzlichen Akte gemacht, die Grundrechte betreffen bzw. verletzen. Ebenso ist bei der abstrakten Normenkontrolle der Zugang zum Gericht restriktiv konzipiert, d.h. den höchsten politischen Organen vorbehalten.[75]
b) Konkrete Normenkontrolle
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Die Spezifizität der konkreten Normenkontrolle als Verfahrensart hat sich in ex-Jugoslawien nur zögernd herausgebildet. Deshalb ist es vielleicht verfehlt, die Schwierigkeiten oder die Seltenheit dieses Verfahrens lediglich auf die – problematischen – Beziehungen zwischen Verfassungsgerichten und Fachgerichten in ex-Jugoslawien zurückzuführen. Heute legen alle Verfahrensordnungen den Fachgerichten nahe, ein Verfahren auszusetzen und das Verfassungsgericht anzurufen, wenn ein in diesem Verfahren anzuwendendes Gesetz verfassungswidrig erscheint. Allerdings steht es den mazedonischen Richtern zu, die Verfassung direkt anzuwenden und insofern ein Gesetz außer Acht zu lassen.[76] In Slowenien, Bosnien-Herzegowina und im Kosovo ist die Unterscheidung der abstrakten und konkreten Normenkontrolle klar und eindeutig vollzogen. Jedoch hat die bosnische Verfassung das Aussetzen des Verfahrens nicht als Pflicht der Fachgerichte statuiert.
c) Die Verfassungsbeschwerde
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Die Verfassungsbeschwerde oder ähnliche Verfahren existieren in allen post-jugoslawischen Ländern. Der jugoslawischen Tradition entsprechend betrifft die Beschwerde allerdings – mit der Ausnahme des Kosovo – nie allgemeine, sondern nur individuelle Akte der öffentlichen Gewalt auf staatlicher oder lokaler Ebene. Voraussetzung ist die Verletzung eines der in der Verfassung gewährten Grundrechte, wobei sich die mazedonische Beschwerde als besonders restriktiv erweist, da nur drei der vierundzwanzig Grundrechte den Zugang zum Gericht eröffnen.[77] Die Beschwerde muss zudem in engem zeitlichen Abstand[78] zur angeblich grundrechtsbeeinträchtigenden Entscheidung eingelegt werden. In Serbien und Montenegro sowie in Bosnien-Herzegowina wird die Verfassungsbeschwerde als Rechtsmittel gegen endgültige Gerichtsentscheidungen verstanden. Das Prinzip der Subsidiarität von Verfassungsbeschwerden kennt Ausnahmen vor allem bei langwierigen Verfahren,[79] um die einschlägige Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen.
d) Die anderen Verfahren
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Abgesehen von der Normenkontrolle und der Verfassungsbeschwerde ist die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts in allen hier interessierenden Ländern ebenfalls für horizontale und vertikale Kompetenzkonflikte vorgesehen. In den meisten Staaten besteht auch eine Kompetenz der Verfassungsgerichte für Anklagen gegen den Staatspräsidenten oder Wahlstreitigkeiten, etwas seltener bezüglich der Verfassungsmäßigkeit und/oder des Verbots von politischen Parteien[80] sowie zur Überprüfung von Maßnahmen, die im Notstand oder Kriegszustand getroffen werden.[81] Im Ganzen spielen diese Verfahren eine unerhebliche Rolle. Beträchtliche Bedeutung hat hingegen in Slowenien und Kroatien die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Volksentscheiden erlangt, auf die noch zurückzukommen sein wird.[82] In Bosnien-Herzegowina gibt es die meisten dieser „anderen“ Verfahren gar nicht. Dafür ist das Verfassungsgericht aber zuständig, wenn eine der bosniakischen, serbischen oder kroatischen Volksgruppen gegen einen Gesetzesentwurf ein Veto wegen Verletzung ihrer vitalen Interessen einlegt und das Parlament über das Vorliegen eines „vitalen Interesses“ keine Einigung erreicht. In diesem Fall entscheidet das Verfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit des Gesetzgebungsverfahrens. Dieser Rechtsweg hatte längere Zeit einen gewissen Erfolg und hat zu einer sichtbaren Verminderung der Fälle beigetragen: Das Verfassungsgericht hat nämlich seine Prüfung nicht auf das Verfahren beschränkt, sondern auch auf das Vorliegen eines vitalen Interesses erstreckt, was eine abschreckende Wirkung entfaltet hat.
e) Die Praxis der Verfahrensarten
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Ähnlich wie auch in Westeuropa stellen Individualklagen bei weitem die häufigsten Verfahren vor den Verfassungsgerichten dar. Diese machen im Durchschnitt zwischen 80% und 97% aller Fälle der Verfassungsgerichte aus und haben, ebenfalls wie in Westeuropa, nur selten Erfolg. Im Unterschied zu den meisten westeuropäischen Ländern setzen sich jedoch diese Individualklagen sowohl aus Verfassungsbeschwerden als auch aus abstrakten Normenkontrollanträgen zusammen. Die Konkurrenz beider Verfahren und deren Koordinierung würde eigentlich einen Filtermechanismus erfordern, dessen Einführung aber die Ressourcen der Verfassungsgerichte oft übersteigen würde. Vor allem das serbische und das kroatische Verfassungsgericht werden jährlich von 10.000 bzw. 6.000 Beschwerden nahezu überrollt, doch selbst in Bosnien-Herzegowina, wo die Konkurrenz von Verfassungsbeschwerde und von durch Einzelne angestrengte abstrakte Normenkontrolle nicht existiert, wird das Gericht mit ungefähr 5.000 Fällen jährlich befasst.[83]
a) Der historische Hintergrund
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Die Urteile des jugoslawischen Bundesverfassungsgerichts unterschieden sich, je nachdem ob es sich um die Überprüfung eines Gesetzes oder anderer allgemeiner Akte handelte. Um Eingriffe des Verfassungsgerichts in die Zuständigkeiten des Gesetzgebers zu vermeiden, beschränkte sich die verfassungsgerichtliche Kompetenz bei Gesetzen auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und das Setzen einer sechsmonatigen Frist, in der das Parlament den Gesetzestext mit der Verfassung in Einklang bringen konnte. Geschah dies, so wurde das Verfahren eingestellt. Geschah dies nicht, stellte das Gericht die Untätigkeit des Gesetzgebers und das Außerkrafttreten des verfassungswidrigen Gesetzes fest. Dies wurde von der Lehre oft kritisiert.[84] In Bezug auf die anderen allgemeinen Akte konnte das Gericht den Akt aufheben (ex nunc) oder annullieren (ex tunc). Diese Urteile waren bindend und wirkten erga omnes.
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Das Verfassungsgericht spielte sicher eine nicht zu unterschätzende Rolle im Verfassungsleben und im politischen System. Es wurde oft angerufen, wenn auch selten durch die Staatsorgane, und hat infolgedessen viele Entscheidungen im Arbeitsrecht und über soziale Rechte, aber auch im Bereich von Nationalisierung, Privatisierung und Entschädigungen bei Enteignungen getroffen.[85]
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Die Urteile waren meist kurzgehalten, ohne auf Gegenmeinungen in der Lehre einzugehen oder sich auf theoretische Überlegungen zu stützen. Sondervoten waren zugelassen, wurden aber nicht veröffentlicht. Dem jugoslawischen Bundesverfassungsgericht wurde manchmal vorgeworfen, es habe seine eigentliche Rolle als Hüter der Verfassung nie richtig verstanden und sich auf eine eher „mechanische Prüfung“ der Verfassungsmäßigkeit zurückgezogen.[86] Dies wird ihm insbesondere im Rahmen des Krisenmanagements in den letzten Jahren des Regimes von 1989 bis 1991 vorgehalten.[87] Dabei hat es zwar die Existenz eines Rechts auf Selbstbestimmung bestätigt, ohne jedoch klarzustellen, wem dieses Recht zusteht, und eine Verfassungsänderung mit der Zustimmung aller Republiken und Provinzen gefordert. Es war sicher weise, den Auflösungsprozess den politischen Akteuren zu überlassen; dennoch hätte man gern mehr Substanzielles über das Selbstbestimmungsrecht erfahren. Insofern scheint mir die Bewertung von Čobanov zutreffend, der zufolge das Gericht zwar eine gefestigte Stellung im politischen System einnahm, seine Entscheidungen jedoch keine grundlegenden Veränderungen des Systems zu bewirken vermochten.[88]
aa) Das Zustandekommen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen
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