Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

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verstieß die vorzeitige Beendigung des präsidentiellen Mandats gegen die Gewaltenteilung und das Prinzip der Rechtssicherheit.

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      In Bosnien-Herzegowina sind Koalitionen sowohl auf der zentralen als auch auf den regionalen und kantonalen Ebenen unvermeidlich und Mehrheiten dementsprechend relativ oder heterogen. Dem richterlichen Aktivismus sind somit engere Grenzen gesetzt als im Kosovo. Zu den üblichen politischen Divergenzen kommen hier auch territoriale und ethnische Spannungsfaktoren. Das territoriale Element findet seinen Ausdruck in einer föderalistisch anmutenden Organisation. Der Zentralstaat ist in zwei Einheiten („Entities“) gegliedert, die RS und die bosniakisch-kroatische Föderation; außerdem gibt es noch den international verwalteten Distrikt von Brćko. Der Bundesstaat erweist sich als äußerst schwach: Territorialität und Ethnizität hindern weitgehend seine Entfaltung. Die Ethnizität ist in den drei in der Präambel genannten „konstitutiven Völkern“, den Bosniaken, den Kroaten und den Serben, verkörpert, die sich unter Ausschluss der sogenannten „Anderen“[111] die staatliche Macht teilen. Trotz allem hat das Verfassungsgericht wichtige Weichen gestellt, manchmal gegen die gesamte politische Elite; so vor allem bei seiner Bemühung, die sogenannten konsozialen oder konkordanzdemokratischen Elemente („power sharing“) gegenüber dem Prinzip der repräsentativen Demokratie unter Kontrolle zu halten. In diesem Zusammenhang erscheint das im Jahr 2000 ergangene Urteil über die „konstitutiven Völker“ noch immer grundlegend.[112] Dort wird sehr deutlich die grundsätzliche, kollektive Gleichheit der drei konstitutiven Völker auf dem gesamten Territorium von Bosnien-Herzegowina betont und somit ein Vorrang der Ethnizität vor der Territorialität statuiert. Daraus folgt, dass die beiden territorialen Gebietseinheiten, die Föderation von Bosnien-Herzegowina und die RS, keine Basis für ethnische Privilegien sein dürfen. Mit gewissen Schwierigkeiten und auch Konzessionen hat das Gericht versucht, diese Linie durchzuhalten.

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      Indizien für eine gefolgschaftstreue Strategie sind insbesondere „textualistische“ Argumentationsmuster, vor allem wenn sie im Zusammenhang mit der Gestaltung der Verfahrensdauer stehen. Sie deuten auf die Absicht hin, Verfahren zu vermeiden und hinauszuschieben. Dies kommt in Serbien besonders deutlich zum Ausdruck, obwohl das Verfassungsgericht formal mit beträchtlicher Macht ausgestattet ist und sogar aus Eigeninitiative tätig werden kann.[113] Das Gericht hat mehrmals politisch brisante Entscheidungen so lange aufgeschoben, bis die politische Mehrheit nicht mehr an der Macht oder kurz davor war, ihre Mehrheit zu verlieren: so zum Beispiel im Fall der Autonomie der Vojvodina, der Justizreform, der Wahlgesetze und des Verbots von Vereinen.[114] Diese Strategie ist schließlich besonders augenfällig im Fall des Brüsseler Abkommens mit dem Kosovo,[115] welches die erste bedeutendere Etappe in den Verhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo über ihre zukünftigen Beziehungen und die Anerkennung des Kosovo durch Serbien darstellte. In seiner Entscheidung hat es das Verfassungsgericht fertiggebracht, dem Abkommen in einer verschwommen formalistischen Begründung seine Qualifizierung als völkerrechtlichen Vertrag zu versagen, um sich für unzuständig erklären zu können und auf diese Weise dieses politisch so brisante Problem überhaupt nicht anzugehen. Es ist im Übrigen amüsant festzustellen, dass in demselben Zusammenhang auch das kosovarische Verfassungsgericht Zurückhaltung geübt hat und sich ebenfalls für unzuständig erklärt hat.[116]

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      Die beliebteste Strategie des mazedonischen Verfassungsgerichts besteht im Problemausweichen. Die offen formulierte verfassungsrechtliche Regelung, nach der das Verfassungsgericht für die Prüfung allgemeiner Akte zuständig ist, wurde von ihm weidlich genutzt, um zahlreiche Verfahrensanträge zurückzuweisen oder für unzulässig zu erklären. Dabei hat sich das Verfassungsgericht auf eine Interpretation nach dem Wortlaut gestützt.[117] Was besonders beunruhigt, ist die Tatsache, dass im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern der Region die Aktivität des Gerichts seit 2011 stetig sinkt, was sowohl auf seine Passivität als auch auf mangelndes Vertrauen in das Gericht schließen lässt.[118]

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      In Montenegro arbeitete das Verfassungsgericht lange auf ähnliche Weise wie das serbische Gericht. Die Trennung von Serbien nach 2006 hat eine Phase des Neuaufbaus, aber auch die Suche nach einer eigenen Identität eingeleitet,[119] so dass die „neue“ montenegrinische Verfassungsgerichtsbarkeit noch sehr jung ist. Erst 2013 wurde die Verfassung den Erfordernissen eines EU-Beitritts angepasst, mit dem Ziel, insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz zu fördern. Dementsprechend wurde nach einem längeren Dialog mit der Venedig-Kommission das Verfassungsgerichtsgesetz im Jahr 2015 geändert, die Kompetenzen des Verfassungsgerichts erweitert und das Richterwahlverfahren reformiert.[120] Infolgedessen arbeitet das Gericht in der aktuellen Organisation erst seit zwei Jahren, so dass sein Aktivismus noch nicht beurteilt werden kann.

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      In Kroatien halten sich Zurückhaltung und Aktivismus die Waage. War bis 2006 erstere vorherrschend, so hat sich das seitdem deutlich geändert. Die Zurückhaltung hat sich, wie in den Nachbarländern, durch die Strategie des Aufschiebens bemerkbar gemacht. So hat das Gericht 26 Jahre gebraucht, um die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung über den Schwangerschaftsabbruch zu prüfen.[121] Zudem hat es lange vermieden, das Bestehen von Regelungslücken als verfassungswidrig zu betrachten, und stattdessen dem Parlament Gutachten vorgelegt,[122] in denen es die Passivität des Gesetzgebers beklagte.

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      Auf der anderen Seite hat es sich nicht gescheut, die Pensionsgesetzgebung für verfassungswidrig zu erklären, und damit sowohl die Regierung als auch das Parlament wegen der hierdurch verursachten Kosten sehr aufgebracht.[123] Seit 2010 zeigt sich auch eine aktivistische Seite des Gerichts, insbesondere in Entscheidungen zu Volksbegehren und -entscheiden. Eine Verfassungsänderung von 2000 hat Bürgerinitiativen auf allen staatlichen Ebenen gestattet, wenn 10% der Wahlberechtigten innerhalb von 15 Tagen die Initiative durch ihre Unterschrift unterstützen und 50% der Wahlberechtigten dem Entwurf zustimmen.[124] Da jedoch befürchtet wurde, dass der (obligatorische) Volksentscheid zum EU-Beitritt die 50%-Hürde nicht erreichen würde, wurde 2010 letztere Bedingung gestrichen. Auf diese Weise ist Kroatien von einem sehr restriktiven zu einem wesentlich großzügigeren Modell der direkten Demokratie übergegangen. Die Konsequenzen haben nicht lange auf sich warten lassen: der EU-Beitritt wurde zwar mit 66,3% der gültigen Stimmen angenommen, doch hatten lediglich 43,5% der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilgenommen. Zudem häuften sich nunmehr Bürgerinitiativen, die nicht von den politischen Parteien, sondern vornehmlich von der Zivilgesellschaft (Kriegsveteranen, Verbände, Gewerkschaften) ausgingen. Einzig das Verfassungsgericht war in der Lage, gemäß Artikel 95 VGG auf Antrag des Parlaments regulierend einzugreifen, indem es die Initiative analog zur abstrakten Normenkontrolle auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfte. Während alle anderen Begehren vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig angesehen wurden, war das Referendum über die verfassungsrechtliche Definition der Ehe[125] der einzig erfolgreiche Volksentscheid. In diesem Fall hat das Gericht den Volksentscheid gegen die politische Mehrheit durchgesetzt. In Anbetracht mangelnder parlamentarischer Anrufung hat es aus Eigeninitiative seine Zuständigkeit zur Prüfung der Initiative bekräftigt und dies sowohl mit der Wahrung der verfassungsrechtlichen Identität Kroatiens als auch mit der legislativen Passivität im Bereich der direkten Demokratie begründet.[126] Es befürwortete das konkrete Projekt mit dem Hinweis auf die tiefe Verankerung der heterosexuellen Ehe in den sozialen und kulturellen Strukturen Kroatiens, ohne die Tür für eine spätere gesetzliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu verschließen.

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      Slowenien ist wohl die homogenste Gesellschaft im ehemaligen Jugoslawien. Das politische Kräftespiel ist durch ein polarisiertes Vielparteiensystem gekennzeichnet, in dem die Regierung durch oft wechselnde Koalitionen


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