Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

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Diese Urteile sind umso mehr zu begrüßen als das serbische Verfassungsgericht grundsätzlich sicher nicht als aktivistisch bezeichnet werden kann. Sie erscheinen außerdem besonders wichtig, weil sie sowohl eine deutliche Absage an ein fortlebendes Relikt sozialistischer Rechtskultur ausdrücken, als auch der Demokratie dienen. Hier steht die Rolle als Gründer einer neuen Ordnung im Vordergrund und die als Verfassungshüter im Hintergrund. Gleichwohl bedurfte es der Unterstützung der Venedig-Kommission und der europäischen Kommission, um diese Entscheidungen durchzusetzen.[149]

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      In Mazedonien ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zur Lustrationsgesetzgebung[150] aus den Jahren 2010-2012 zu nennen, die zur Aufhebung zahlreicher Bestimmungen geführt hat. Auf diese Weise wurde der Lustrationsprozess weitgehend gestoppt, was im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz eher positiv, aber aus der Perspektive der Transformation eher negativ zu bewerten ist. Es gelang jedoch der Regierung, ein neues Gesetz mit gleichen bzw. ähnlichen Vorschriften wie die vom Verfassungsgericht aufgehobenen durchzusetzen. Dieses Gesetz wurde 2014 für verfassungskonform erklärt;[151] diese widersprüchliche Rechtsprechung ist möglicherweise auf die veränderte Besetzung des Gerichts zurückzuführen. Aktivismus, wie der des mazedonischen Verfassungsgerichts, macht wenig Sinn, da er zur Demokratisierung nicht beiträgt, sondern vor allem das Verfassungsgericht diskreditiert. Auch die 2016 bezeugte Bereitschaft des Verfassungsgerichts, die präsidentiellen Zuständigkeiten für Begnadigungen erheblich zu erweitern[152] zeigen wenig Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze und lassen an der Fähigkeit des Gerichts, die Rolle eines Hüters der Verfassung oder des Gründers einer neuen Ordnung zu übernehmen, zweifeln.

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      In Kroatien und Slowenien ging es hauptsächlich um die Harmonisierung von direkter und repräsentativer Demokratie. In beiden Ländern haben Mechanismen direkter Demokratie einen solchen Umfang erreicht, dass die Verfassungsgerichte nicht nur in ihrer Rolle als Schiedsrichter, sondern auch als Hüter und Gründer der neuen Rechtsordnung auf den Plan gerufen wurden. In beiden Ländern ist nämlich das Verfassungsgericht für eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Volksbegehren zuständig.[153] Dies ist wohl dem slowenischen Gericht – nicht zuletzt wegen ausführlicherer textlicher Grundlage in der Verfassung, dennoch mit Schwierigkeiten – besser gelungen als seinem kroatischen Pendant. Dazu möchte ich die slowenische Rechtsprechung zur Rentenreform[154] darstellen, in der die gegensätzlichen Argumente beider Seiten sehr deutlich zum Ausdruck kommen. Auf der einen Seite begründete das Parlament die Rentenreform im Bewusstsein der fortschreitenden Finanzkrise mit der Bedrohung des bestehenden Rentensystems und dem daraus erwachsenden Risiko der Beeinträchtigung einer Reihe anderer sozialer Rechte und der Erhöhung der Staatsverschuldung. Auf der anderen Seite hielt dem das Verfassungsgericht eine ganz andere Abwägung entgegen, wonach das Recht auf die Ausübung direkter Demokratie nur durch schwerwiegende verfassungsrechtliche Grundsätze beschränkt werden kann. Die Tatsache, dass es sich um zukünftige, das heißt nur potenzielle Bedrohungen handele, und dass diese Bedrohungen nicht in verfassungsrechtlichen Kategorien zu erfassen und daher, nach Ansicht des Gerichts, nicht überprüfbar seien, veranlasste das Gericht, den Volksentscheid zuzulassen. Die Reform konnte somit nicht in Kraft gesetzt werden, die Krise und auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärkte sich, so dass kurz danach die Regierung stürzte. Zeigt dieser Aktivismus die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und seine Bemühung, die Verfassung auch in Krisenzeiten textgetreu auszulegen, so erweist er sich doch auch als ineffizient und unproduktiv. Dies liegt wohl unter anderem daran, dass das Verfassungsgericht es trotz seiner ausführlichen Argumentation ablehnte, das wirtschaftliche und soziale Umfeld in verfassungsrechtliche Kategorien zu übersetzen. Die nächste Regierung musste dann an noch drastischere Reformen – nicht nur im Rentensystem – denken, wurde diesmal allerdings vom Verfassungsgericht unterstützt, das anscheinend begriffen hatte, welche Bedrohung die zahlreichen Anträge auf Volksentscheid für die parlamentarische Demokratie und die Grundrechte bedeutete. Dies könnte als schwerfälliger Beitrag zur Demokratie bezeichnet werden.

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      Zu den politisch brisantesten Fragen zählen die zahlreichen zu staatlichen Symbolen ergangenen Entscheidungen. In den meisten Fällen gründet sich die politische Brisanz auf den Minderheitenschutz, der im Kosovo, in Mazedonien und Bosnien-Herzegowina die größten Schwierigkeiten bereitete.

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      Für den Kosovo ist in dieser Hinsicht die Prizren-Entscheidung[155] besonders wichtig. In diesem Urteil hielt das Verfassungsgericht das Wappen der Stadt Prizren für verfassungswidrig, da es die Minderheiten, die im Kosovo als Gemeinschaften bezeichnet werden, nicht genügend berücksichtige. Während Multiethnizität den verschiedenen Gemeinschaften gegenüber staatliche Neutralität gebiete, seien in diesem Wappen nur albanische Symbole sichtbar. Das Gericht argumentierte sowohl mit den kollektiven Minderheitsrechten als auch mit dem individuellen Bürgerrecht auf Gleichheit. Es versuchte also, ein Gleichgewicht zwischen den ethnischen und den demokratischen Elementen herzustellen oder zu bewahren. Die Rolle als Gründer einer neuen Ordnung im Sinne eines nation building kommt hier zum Ausdruck.

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      Eine solche Rolle ist in Bosnien-Herzegowina weniger evident, obwohl sich das Verfassungsgericht mit ganz ähnlichen Streitigkeiten befassen musste. So wird in der grundlegenden Entscheidung[156] über die kollektive Gleichheit der konstitutiven Völker in beiden territorialen Entitäten, der Föderation von Bosnien-Herzegowina und der RS, der Akzent vor allem auf die kollektiven Rechte gelegt und die individuelle bürgerrechtliche Komponente kaum erwähnt. In diesem Sinne hat das Gericht vor allem darauf geachtet, dass die Regelungen über Städtenamen, Wappen, Hymnen, Symbole oder Feiertage entweder alle Völker berücksichtigen (ethnische Inkorporierung) oder kein Volk erwähnen (ethnische Neutralität).[157] Die grundsätzliche Gleichheit der konstitutiven Völker erweist sich somit zugleich als Gründerakt im Hinblick auf den Schutz von Minderheitsrechten und als Hindernis für einen besseren Schutz individueller und politischer Menschenrechte und damit für eine weitere demokratische Entfaltung. Denn kollektive Gleichheit in Form von ethnischen Quoten opfert individuelle Gleichheit, die allein zur Bildung von politischer Mehrheit führt.

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      In Mazedonien ist in erster Linie die Rechtsprechung zum Flaggengebrauch, insbesondere der türkischen und albanischen Flaggen vor dem Rathausgebäude in Gostivar, bedeutend. 1997 hatte das Verfassungsgericht Gostivars Gemeindesatzung mit dem Hinweis auf die mangelnde Zuständigkeit der Gemeinde, in ihrer Satzung den Flaggengebrauch zu regeln, aufgehoben. Darauf reagierte die albanische Bevölkerung mit starkem Protest und gewaltsamen Demonstrationen, gegen die die Polizei hart vorging.[158] Der dadurch ausgelöste inter-ethnische Konflikt wurde 2001 durch das Ohrid-Abkommen[159] beendet und die Verfassung dementsprechend geändert. 2005 kam ein neues Gesetz über den Flaggengebrauch zustande, welches dem Verfassungsgericht ebenfalls vorgelegt wurde. In seiner Entscheidung von 2007[160] hob es mehrere Bestimmungen auf und zwar sowohl diejenigen, die nach Ansicht des Gerichts die nationale Souveränität betrafen und damit die alleinige Präsenz der nationalen Flagge rechtfertigten, als auch diejenigen, die das Hissen von „Minderheits-Flaggen“ nur zuließen, wenn die betreffende Minderheit eine Mehrheit in der Bevölkerung darstellte. Dieser Spruch löste wiederum heftigen Widerspruch bei der albanischen Bevölkerung aus; auf Aufforderung der albanischen Parteien traten die beiden albanischen Verfassungsrichter von ihrem Amt zurück.[161] Im Schrifttum wird die Meinung vertreten, das Gericht habe in diesem Fall zur Staatsbildung beigetragen, weil seine Entscheidung die Debatte wiederbelebt und zur Verdeutlichung der verschiedenen Erwartungen geführt habe.[162] Dies scheint jedoch umso weniger überzeugend als das Gesetz in seiner Fassung von 2011 von neuem an die Zahl der jeweils ansässigen Minderheitsbevölkerung anknüpft[163] und den Flaggengebrauch für die Minderheiten etwas großzügiger gestaltet als dies in der Entscheidung von 2007 vorgesehen war. Man kann sich also fragen, ob nicht eher die politischen Akteure die Versöhnung eingeleitet haben. Jedenfalls zeigt dieser Fall, wie sensibel


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