Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

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wenn sie nicht als politische Instanz betrachtet werden wollen.

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      Auch in Slowenien haben Symbole eine bedeutende Rolle gespielt. Hier sind es nicht Flaggen, Wappen oder Feiertage, sondern ein Straßenname, und zwar die Tito-Straße, der Probleme aufwarf. Der Stadtrat von Ljubljana hatte sich im Mai 2009 für diesen Namen nur zwei Monate nach der Entdeckung des aus der Nachkriegszeit stammenden Massengrabes von Huda Jama[164] entschieden. Die Familien und Nahestehenden der Opfer der damaligen Verbrechen fühlten sich durch den Beschluss tief in ihrer Würde verletzt, so dass einer von ihnen Beschwerde beim Verfassungsgericht einreichte. Das Gericht hob den Beschluss auf, weil Slowenien eine konstitutionelle, nicht nur eine formelle Demokratie sein solle und weil in einer konstitutionellen Demokratie die Menschenwürde unbedingt beachtet und gewahrt werden müsse.[165] Matej Avbelj[166] merkt dazu an, das Verfassungsgericht sei sich wohl bewusst gewesen, dass diese konstitutionelle Demokratie in Slowenien noch nicht verwirklicht sei, denn sonst hätte der Stadtrat von Ljubljana diesen Beschluss niemals gefasst.

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      Auch andere politisch brisante Themen wurden den Verfassungsgerichten vorgelegt. In den meisten dieser Fälle haben die Verfassungsgerichte eher konformistische oder konventionelle Urteile gefällt, also höchstens die Verfassung gehütet, aber wenig zur Demokratisierung beigetragen.

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      Um die Legitimierung der Gerichte, die natürlich eng mit ihrer öffentlichen Wahrnehmung zusammenhängt, zu verdeutlichen, soll zunächst eine Bestandsaufnahme über das Ansehen der Gerichte und ihrer Richterinnen und Richter vorgenommen werden (aa.). Sodann bleibt zu erkunden, was die Verfassungsgerichte selbst für ihre öffentliche Wahrnehmung tun (bb.).

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      Zahlreiche institutionelle, politische und soziale Faktoren tragen zur Legitimierung und zum Ansehen der Verfassungsgerichtsbarkeit bei.[167] Die institutionellen Aspekte wurden bereits dargestellt.[168] Auf sie gründet sich ein Großteil der gerichtlichen Solidität. Die politischen und sozialen Faktoren hängen eng mit dem politischen Kräftespiel und der Rechtskultur zusammen und bedingen beispielsweise das entweder respektvolle oder eher aggressive Verhalten der politischen Akteure gegenüber den Verfassungsgerichten. Die Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen reflektiert diese Gegebenheiten. Gesellschaftlich verankerte Traditionen wie die Existenz informeller Netzwerke, die mit den offiziellen Kanälen der Rechtsdurchsetzung konkurrieren oder sie ersetzen, spielen ebenfalls eine nicht zu unterschätzende, aber schwer messbare Rolle.

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      Die sicherste oder jedenfalls objektivste Bewertung gerichtlichen Ansehens resultiert in der Regel aus Umfragen. Leider gibt es so gut wie keine Umfragen speziell zu den Verfassungsgerichten, was schon an sich eine Aussage ist. Das Vertrauen in staatliche Institutionen und insbesondere in die Justiz ist in allen post-jugoslawischen Ländern recht schwach,[169] in Bosnien-Herzegowina misstrauen der Justiz sogar 73% der Befragten. Es ist außerdem anzumerken, dass in dieser Hinsicht Slowenien und Kroatien kaum besser abschneiden als zum Beispiel Serbien. Wieder einmal ist also der Unterschied zwischen den EU-Mitgliedstaaten Slowenien und Kroatien und den anderen post-jugoslawischen Ländern viel geringer als der Unterschied zwischen älteren und jüngeren EU-Mitgliedstaaten.[170] Diesem Vertrauensdefizit entsprechen öffentliche Reaktionen: In Mazedonien forderten Demonstranten, die Verfassung vom Verfassungsgericht zu befreien,[171] das kroatische Gericht wird nunmehr als politisch rechts eingestuft,[172] das serbische Verfassungsgericht gilt als unscheinbar,[173] von dem bosnischen wird behauptet, es stehe unter bosniakischem und internationalem Einfluss,[174] das kosovarische muss nach seinen Anfangserfolgen seine ersten Skandale bewältigen;[175] nur das slowenische erscheint trotz allem als relativ unabhängig.[176]

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      Von diesen öffentlichen Reaktionen sind diejenigen der politischen Umwelt zu unterscheiden. Natürlich macht es einen großen Unterschied, ob die Exekutive, das Parlament und die Parteien es als selbstverständlich ansehen, die Entscheidungen der Verfassungsgerichte auszuführen, wie das im Kosovo und in Slowenien in der Regel geschieht, oder ob sie diese als politisch oder unbegründet abwerten. Die Autorität sowie die Stabilität des Verfassungsgerichts leiden unter solch unsachlicher Kritik. Selbstverständlich wird die Sache noch schlimmer, wenn das Gericht sich seinerseits Kommentare zu seinen Entscheidungen verbittet und sich über unakzeptablen Druck beklagt. Dies beschreibt jedoch in etwa die Situation des mazedonischen Verfassungsgerichts.[177] Zwischen beiden Extremen befinden sich die übrigen Verfassungsgerichte.

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      Die Anzahl von Verfassungsbeschwerden kann ebenfalls als Barometer der gerichtlichen Akzeptanz herangezogen werden. Das kosovarische Verfassungsgericht bestätigt dies selbst auf seiner Webseite. Trotz der Schwierigkeit eines Vergleichs aufgrund unterschiedlicher Bevölkerungszahlen ist es doch bezeichnend, dass es in Mazedonien mehrere Jahre keine Beschwerde gab und 2014 spärliche 14 Beschwerden dem Verfassungsgericht vorgelegt wurden, während zur gleichen Zeit jeweils zwischen 6.000 und 10.000 Verfassungsbeschwerden in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien eingegangen sind. Die Überlastung, an der nunmehr letztere Gerichte leiden, kontrastiert mit der mazedonischen Situation. Diese ist auch nicht mit Slowenien zu vergleichen, da dort eine drastische Filterung nach deutschem Modell zu einer Reduzierung der Beschwerden geführt hat.

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      Die gute oder schlechte Umsetzung der Entscheidungen zeugt vom Zustand des politischen Kräftespiels und der Rechtskultur. In dieser Hinsicht steht Slowenien auf der Umsetzungsskala der Entscheidungen ganz oben neben dem Kosovo, während sich Serbien und Mazedonien, aber auch Bosnien-Herzegowina am unteren Ende befinden.

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      Die Existenz informeller „korruptionsfreundlicher“ Kontakte oder Netzwerke scheint in allen post-jugoslawischen Ländern weit verbreitet.[178] Dieses Phänomen, das dem russischen Rechtsnihilismus umso näher steht, als es eigentlich nicht als transitorisch, sondern als Kultur und Tradition empfunden wird, hindert Reformen zur Stärkung der rechtlichen und gerichtlichen Effizienz. Die relative Armut der betroffenen Länder, die dementsprechend niedrigen Richtergehälter, die dürftige Ausstattung der Gerichte und die mangelnden Rechtskenntnisse der Bevölkerung: dies alles unterhält eine schon lang andauernde „Kultur der Informalität“,[179] die teilweise auf die sozialistische Vergangenheit, auf nationale Gepflogenheiten, oder sogar auf das ottomanische Reich zurückgeführt wird. Diese „Kultur der Informalität“ zielt hauptsächlich auf Beratung, Erhalt von schwer zugänglichen Informationen, Beschleunigung von formellen Verfahren und Kontakten zu Kollegen oder Vorgesetzten, seltener auf einen Einfluss auf den Inhalt eines Verfahrens. Die Hilfeleistungen beruhen auf Gegenseitigkeit und werden weniger häufig, als man denken könnte, durch Geschenke oder Geld belohnt. Für die Justiz ist in dieser Hinsicht hinzuzufügen, dass Rechtsanwälte keinen guten Ruf genießen, dass zudem die „normalen“ Leute nicht wissen, wie man sich an sie wendet, und häufig die Gerichte auf die von ihnen vorgebrachten Argumente überhaupt nicht eingehen.[180]

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      Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass das slowenische und das kosovarische Verfassungsgericht das größte Ansehen genießen, soweit man in dieser Region von Ansehen sprechen kann und soweit das Ansehen auf einem fundierten Urteil beruht.[181]

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      Selbst die Verfassungsgerichte, die von sich behaupten, Kommunikationspolitik zu betreiben, erweisen sich auf dem Gebiet der öffentlichen Kommunikation als


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