Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
entmachtet und allgemein die richterliche Unabhängigkeit in Frage gestellt: dies sind die durch die Medien einer breiten Öffentlichkeit bekannten Nachrichten.[96]
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Viel weniger bekannt sind die Berichte über die wirtschaftliche und demokratische Krise in Slowenien, Kroatien und Serbien, den jugoslawischen „Lokomotiven“, ganz zu schweigen von den übrigen vier Ländern, deren demokratische Leistungen schon länger zu Skepsis veranlassen. Im Gegensatz zu Ungarn und Polen sind es nicht gesetzliche Änderungen, durch die in den zuletzt genannten drei Ländern die Krise in Erscheinung tritt. Sie manifestiert sich vielmehr leise, durch informelle Netzwerke und Verfahren, welche die offizielle Rechtsanwendung umgehen,[97] und durch die von den früheren Eliten vollbrachte Vereinnahmung des Staats[98] – ein ganz ähnlicher Vorgang wie in Putins Russland und in der Ukraine.
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Gerade deshalb sind die Verfassungsgerichte wichtige Akteure. Jedoch bleibt zu prüfen, inwiefern sie selbst von der Krise betroffen und demnach im Stande sind, eine eigenständige konstruktive Rolle wahrzunehmen. Gelingt es ihnen, sind sie willens und wenn ja, wie weit, sich für die Einbeziehung ihres Landes in den europäischen Rechtsraum einzusetzen? Und wie wirken sich solche Bemühungen auf die anderen Staatsgewalten sowie die Zivilgesellschaft aus? Diese Fragen sollen zunächst im Lichte des nationalen politischen Kräftespiels (1.), dann im weiteren Umfeld des europäischen Rechtsverbunds (2.) näher erläutert werden.
1. Die Rolle der Verfassungsgerichte im nationalen politischen Kräftespiel
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In der Verfassungsgerichtsbarkeit kommt die Nähe von Politik und Recht besonders deutlich zum Ausdruck und unterstreicht somit die erforderliche Übersetzung politischer Positionen in juristische Argumente.[99] In Transformationszeiten erweist sich eine solche Übersetzung als besonders dringliches Anliegen, dem allerdings zahlreiche Hindernisse entgegenstehen. Das Verfassungsgericht soll einen Weg zwischen Verfassungsbewahrung und Verfassungsanpassung finden, zwischen Kontinuität und Erneuerung. Dieses allgemeine Ziel lässt sich, je nach politischem Kräftespiel und Temperament des Verfassungsgerichts, in zahlreichen unterschiedlichen Lösungen konkretisieren. Aktivismus ist also keine absolute und konstante Eigenschaft, sondern eher eine Frage der politischen Konjunktur und der gerichtlichen Strategie.
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Von außen gesehen kann Aktivismus zunächst an seinem politischen Resultat gemessen werden und stellt sich dann vor allem als Opposition dar: das Verfassungsgericht setzt seine Lösung an die Stelle derjenigen des demokratischen Gesetzgebers, indem es ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt (a.).[100] Diese eher quantitative Sichtweise des Aktivismus, bei der vor allem die abstrakte Normenkontrolle im Vordergrund steht, gilt es, durch eine qualitativere Analyse, nämlich den inhaltlichen Beitrag der Entscheidungen zur demokratischen Transformation, zu ergänzen (b.).[101] Schließlich sei auf die öffentliche Wahrnehmung des gerichtlichen Aktivismus, seine Akzeptanz in der Gesellschaft und damit auf das Problem der Legitimation hingewiesen (c.).
a) Aktivismus als politische Opposition
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Aktivismus ist zweifellos ein Schlagwort in der Diskussion über die Verfassungsgerichtsbarkeit geworden, insbesondere in den „neuen Demokratien“.[102] Der Begriff ist mehrdeutig, da er sowohl deskriptiv konnotiert ist – das Gericht Y hat x Gesetze aufgehoben – als auch eine implizite Bewertung enthält: die Aufhebung von x Gesetzen übersteigt das „übliche“ Maß oder anders ausgedrückt: Aktivismus geht über die traditionelle richterliche Amtsausübung hinaus. Wo aber die Grenze zwischen „normaler“ gerichtlicher Funktion und Aktivismus verläuft, bleibt dabei unklar. Auch die Frage, wie Aktivismus zu bewerten ist: grundsätzlich positiv, weil er für Demokratisierung steht[103] oder grundsätzlich negativ, weil er die traditionelle Gewaltenteilung durchbricht, bleibt ungeklärt.[104] Beide Auffassungen werden in der Lehre vertreten. Dabei spielen vermutlich sowohl die gegenwärtig verbreiteten Ansichten über die Aufwertung der richterlichen Gewalt als auch die oft vertretene Annahme einer besonderen der Transformation eigenen Legalität eine Rolle.[105]
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Ferner tendiert diese – oft politikwissenschaftliche – Diskussion dazu, die rechtsimmanente Dimension geringzuschätzen.[106] Aktivismus ist nämlich auch mehr oder weniger in der Verfassung selbst und in der Ausgestaltung des Verfassungsgerichts angelegt. Es seien hier nur einige Aspekte kurz angemerkt: Die Art wie der Verfassungstext die Grundrechte konzipiert, ob er beispielsweise eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorsieht, auf völkerrechtliche Instrumente verweist oder wie er deren Schranken definiert, räumt dem Verfassungsgericht eine wichtigere oder weniger wichtige Position im Staatsgefüge ein. In Slowenien wird zum Beispiel gerichtlicher Schutz der Grundrechte garantiert, aber weder eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgeschrieben noch wird zur Auslegung der Grundrechte auf das internationale Recht verwiesen, während diese beiden Elemente in der kosovarischen Verfassung verankert sind.[107] Das slowenische Verfassungsgericht muss demnach aktivistischer agieren, um einen dem kosovarischen Standard gleichkommenden Grundrechtsschutz zu gewähren. Ähnliches gilt für die Verfassungsgerichtsorganisation. Die Stellung des Gerichts im Staat, Umfang und Vielseitigkeit seiner Kompetenzen sowie die Beschränkung oder die Öffnung des Zugangs zum Gericht zeichnen von vornherein ein eher zurückhaltendes oder eher aktivistisches Profil. In dieser Hinsicht könnte das bosnisch-herzegowinische Gericht für Zurückhaltung stehen und das serbische für Aktivismus; interessant ist dabei, dass sich in der politischen Realität das Bild fast genau umkehrt.
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Wenn im Folgenden versucht wird, den Grad oppositioneller Strategie in den verschiedenen Verfassungsgerichten auszumachen, so muss dabei doch immer der Verfassungstext mitgedacht werden, um den gerichtlichen Beitrag zu messen, der nicht im Text unmittelbar angelegt ist. Es wäre wohl ebenfalls verfehlt, ein Verfassungsgericht als rein aktivistisch oder ausschließlich regierungstreu zu etikettieren; es handelt sich hier allenfalls um allgemeine Trends. Unter diesem Vorbehalt sind drei Gruppen erkennbar: die erste „oppositionelle“ Gruppe besteht aus den Verfassungsgerichten Bosnien-Herzegowinas und des Kosovo; die zweite „gefolgschaftstreue“ Gruppe aus den Gerichten Serbiens, Montenegros und Mazedoniens; die dritte mittlere Gruppe bilden die Verfassungsgerichte Kroatiens und Sloweniens. Die im Folgenden vorgestellten Entscheidungen sind alle auch inhaltlich relevant: Sie stellen hard cases oder jedenfalls signifikante Fälle dar.
aa) Oppositionelle Strategien: allgemeine Trends im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina
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Die Verfassungsgerichte von Bosnien-Herzegowina und Kosovo operieren in tief gespaltenen Gesellschaften mit konsensdemokratischen Zügen, geprägt von einem zersplitterten Vielparteiensystem und daher vielfältigen Koalitionen. Sie haben sich nicht gescheut, den politischen Eliten in wichtigen Fragen zu widersprechen.
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Eine der ersten Entscheidungen[108] des kosovarischen Verfassungsgerichts inszeniert einen spektakulären Akt von Opposition. Es handelte sich um eine Anklage gegen den Staatspräsidenten wegen schwerer Verfassungsverletzung. Das Gericht hat die Beschwerde sowohl für zulässig als auch für begründet erklärt, obwohl es durchaus möglich gewesen wäre, beides zu verneinen. Das Urteil erging somit gegen die führende Partei und die politische Mehrheit. Es löste den Rücktritt des Präsidenten, ein Misstrauensvotum im Parlament, eine Parlamentsauflösung und Neuwahlen aus. Die darauffolgende Neuwahl des Präsidenten durch das Parlament wurde ebenfalls vom Verfassungsgericht gerügt wegen der Nichtbeachtung des vorgegebenen Quorums und des Fehlens eines zweiten Kandidaten.[109] Nachdem sich daraufhin Mehrheit und Opposition auf eine Konsens-Kandidatin geeinigt hatten, wollte das Parlament eine Direktwahl durch das Volk sowie eine Verkürzung der Amtszeit einführen und dies rückwirkend auf die bereits gewählte Präsidentin anwenden. Auch dies scheiterte am Verfassungsgericht, das von seiner Kompetenz, Verfassungsänderungen