Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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      Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sind zwar ein guter Ausgangspunkt, aber meistens unzureichend, um die institutionelle Position eines Verfassungsgerichts ausreichend zu bestimmen. In den meisten westeuropäischen Staaten wie auch in der Mehrzahl der ehemals jugoslawischen Länder sind zu diesem Zweck Verfassungsgerichtsgesetze (VGG) erlassen worden. Oft beschließt außerdem das Verfassungsgericht eine Geschäftsordnung. In manchen Ländern hat man jedoch auf ein Gesetz verzichtet und dem Verfassungsgericht Regulierungsautonomie eingeräumt. Dies gilt für Mazedonien und Bosnien. Die Venedig-Kommission hat diese Lösung kritisiert mit dem Hinweis darauf, dass die Verfassungskonkretisierung normalerweise dem Gesetzgeber zusteht.[64] Gleichwohl ist zu bedenken, dass in diesen schwachen Übergangsstaaten der von einer parlamentarischen Mehrheit ausgehende Druck so stark sein kann, dass ein Verfassungsgerichtsgesetz die gerichtliche Unabhängigkeit empfindlich beeinträchtigen könnte.

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      Was ist aus diesem institutionellen Arrangement zu schließen?[65] Wohl einerseits, dass zahlreiche Regelungen heutzutage viel detaillierter ausfallen als in der Vergangenheit und sich insofern den Standards des europäischen Rechtsraumes annähern. Andererseits aber garantieren auch diese Standards keine optimale Unabhängigkeit und schließlich bleibt jeweils zu fragen, ob und inwieweit europäische Standards für den post-jugoslawischen Kontext geeignet sind. Wenn das gespannte Verhältnis zwischen Legislative und Verfassungsgericht zum Hinausschieben von Richterwahlen, zum Kürzen des richterlichen Gehalts oder der finanziellen Mittel des Gerichts führt, dann ist die gerichtliche Unabhängigkeit und Legitimität unmittelbar bedroht.

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      Die verschiedenen Verfahren machen Aussagen über den angestrebten Umfang des Schutzes und die Ausstrahlung der Verfassung. Sie gestalten sowohl den Zugang zu den Gerichten als auch die Instrumente, mithilfe derer diese sich mehr oder weniger Macht, Einfluss oder Ansehen verschaffen können.[66] Im ehemaligen Jugoslawien dominierte die abstrakte Normenkontrolle (a.). In den Nachfolgestaaten haben sich neben speziellen Verfahren die konkrete Normenkontrolle (b.) und die Verfassungsbeschwerde (c.) etabliert.

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      Da die abstrakte Normenkontrolle die wichtigste Zuständigkeit des ehemaligen jugoslawischen Verfassungsgerichts ausmachte, scheint es geboten, den historischen Hintergrund kurz vor der Darstellung der gegenwärtigen Regelungen zu beleuchten.

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      Die abstrakte Normenkontrolle, wichtigste Kompetenz des jugoslawischen Bundesverfassungsgerichts, betraf alle möglichen allgemeinen Akte der Staats-, Republik- und Selbstverwaltungsorgane, soweit das Bundesrecht den Prüfungsmaßstab bildete. Ging es hingegen um Probleme der Vereinbarkeit mit dem Recht der Republiken, so waren deren Verfassungsgerichte zuständig. Die sogenannten allgemeinen Akte umfassten sowohl Gesetze des Bundes, der Republiken und der Provinzen als auch Verordnungen der Exekutivorgane und die unzähligen Entscheidungen, Empfehlungen, Pläne, Resolutionen der Bundesversammlung und aller Selbstverwaltungsorgane. In der Praxis betrafen bei weitem die meisten Fälle Akte der Selbstverwaltungsorgane, wie Betriebsverfassungen oder Abgabensatzungen. Die Normenkontrolle erstreckte sich jedoch weder auf Verfassungs- oder Verfassungsänderungsgesetze noch auf individuelle Rechtsakte.[67]

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      Auch die Antragsberechtigung war großzügig geregelt: alle höchsten Bundesorgane, die obersten Gerichte (auch außerhalb der konkreten Normenkontrolle), die Republikverfassungsgerichte sowie die Selbstverwaltungsorgane, soweit sie in ihren Rechten verletzt waren, konnten das Gericht anrufen. Außerdem stand es jedem Bürger zu, dem Gericht eine Prüfung „vorzuschlagen“. Letzteres entschied, ob es daraufhin ein Verfahren einleiten wollte oder nicht. Alternativ konnte es auch aus eigener Initiative tätig werden; das geschah gerade auch dann häufig, wenn Bürger eine Prüfung anregt hatten, ohne dass dies als direkte Reaktion auf die Anregung verstanden wurde.

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      Neben der Normenkontrolle übte das Gericht Gutachter- und Beratungsfunktionen aus und nahm auf diese Weise am politischen Willensbildungsprozess teil. Es ist bezeichnend, dass die sensible Frage der Vereinbarkeit der Republikverfassungen mit der Bundesverfassung nicht in das Verfahren der Normenkontrolle aufgenommen, sondern im Wege eines dem Bundesparlament zugeleiteten, nicht bindenden Gutachtens des Verfassungsgerichts geklärt wurde. Das Verfassungsgericht war ebenfalls für Organstreitigkeiten und Kompetenzkonflikte zuständig. In der Praxis haben diese Verfahren jedoch nur eine untergeordnete Rolle gespielt.

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      Zusammenfassend kann die jugoslawische Normenkontrolle als ein recht breit gefasstes, aber wenig differenziertes Verfahren bezeichnet werden. Dennoch wurden wichtige Teile davon in die Verfassungsgerichtsbarkeit der jugoslawischen Nachfolgestaaten übernommen.

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      Die abstrakte Normenkontrolle bezieht sich auf die Verfassungsmäßigkeit[68] von Gesetzen und sonstigen allgemeinen Akten der Legislative und der Exekutive auf staatlicher und lokaler Ebene sowie auf die Beachtung der Normenhierarchie. Oft wird auch die konkrete Prüfung, das heißt die Vorlage durch Fachgerichte, in die Kategorie der abstrakten Normenkontrolle eingeordnet.

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      Außer in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo, wo die internationale Gemeinschaft sehr aktiv auf die Verfassunggebung eingewirkt hat, stellt sich die abstrakte Normenkontrolle in den in diesem Beitrag besprochenen Staaten mehr oder weniger wie im alten Jugoslawien dar. Dies bedeutet zunächst, dass unzählige Akte vom Verfassungsgericht kontrolliert werden können, sodann, dass der Zugang zu verfassungsgerichtlicher Prüfung denkbar weit gefasst ist. Abgesehen von den autorisierten Antragstellern steht es jedermann zu, eine Verfassungskontrolle anzuregen oder „vorzuschlagen“,[69] über deren Behandlung dann das Gericht entscheidet. Abgesehen davon ist eine gerichtliche Selbstbefassung vorgesehen. Die Venedig-Kommission hat allerdings kürzlich dem montenegrinischen Gesetzgeber abgeraten, die Selbstbefassung beizubehalten, weil diese das Verfassungsgericht leicht unter Druck bringen könne.[70] Nur Slowenien hat sich etwas von diesem Modell distanziert, denn erstens kann hier das Gericht nicht ex officio tätig werden und zweitens ist der Zugang des Einzelnen zur abstrakten Normenkontrolle unter die Bedingung eines persönlichen rechtlichen Interesses gestellt.[71] Der Zugang des Einzelnen zum Verfassungsgericht ist also in den ehemals jugoslawischen Ländern, wie auch zum Beispiel in Belgien,[72] nicht auf die Verfassungsbeschwerde beschränkt, sondern erstreckt sich auf die abstrakte Normenkontrolle. Dies stellt oft nicht nur eine Konkurrenz zur Verfassungsbeschwerde dar, sondern wirkt sich auch nachteilig auf den Stil der Entscheidungsbegründung aus.[73]

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      Dagegen haben Bosnien-Herzegowina und der Kosovo das jugoslawische Erbe abgelehnt. Im Kosovo erstreckt sich zwar die abstrakte Normenkontrolle ebenfalls auf alle allgemeinen Akte, doch schließt die begrenzte Liste von Antragsberechtigten[74] eine Individualklage sowie das selbstständige Tätigwerden durch das Verfassungsgericht aus. Ferner sieht die kosovarische Verfassung eine kurzfristig mögliche Gesetzesprüfung auf Antrag von zehn Abgeordneten sowie die Kompetenz zur obligatorischen ex ante Prüfung von Verfassungsrevisionen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verträgen und den Grundrechten vor. Im Vergleich dazu erscheint die bosnische abstrakte Normenkontrolle begrenzt. Explizit erwähnt


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