Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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      Die politische und wirtschaftliche Geschichte Jugoslawiens[10] zeichnet sich durch den Rückgang der zentralistischen Organisation und damit der einheitsstiftenden Rolle der kommunistischen Partei aus. Dies hat unter anderem zu ihrer Ambivalenz beigetragen: Erfolg und Scheitern, Liberalisierung und Repression, Demokratiebestrebungen und ethnischer Nationalismus, Zentralisierung und Dezentralisierung folgten schnell aufeinander. Wie diese Faktoren im Einzelnen zu gewichten sind, bleibt bis heute teilweise unklar.[11] Festzuhalten ist jedenfalls, dass ab den 1960er und 1970er Jahren die Macht in der kommunistischen Partei auf die nationalistischen Eliten in den Republiken überging. Die in den 1970er Jahren beginnende wirtschaftliche Krise konnte daher nicht mehr durch zentralstaatliche Maßnahmen bekämpft werden, so dass das Scheitern des zweiten jugoslawischen Staats, welches sich auf dem Parteikongress von 1990 konkretisierte, besiegelt schien.

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      Die Unabhängigkeitserklärungen der 1990er Jahre lösten fast überall Krieg oder ethnische Unruhen aus, die nur in Slowenien und Kroatien bald zum Stillstand kamen. Trat die kroatische Verfassung bereits 1990, die slowenische und die mazedonische 1991 in Kraft, so kam die Verfassung von Bosnien-Herzegowina 1995 zustande, während in Serbien die Wende zur Demokratie erst 2006 und in Montenegro 2007 stattfand. Die kosovarische Verfassung wurde schließlich 2008 verabschiedet. Alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens haben die Institution des Verfassungsgerichts übernommen.

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      Der Übergang zur Demokratie hat sich in den ex-jugoslawischen Ländern unterschiedlich vollzogen. Zum einen bestanden bereits vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens erhebliche Unterschiede zwischen den damaligen Republiken. Zum andern gehören heutzutage zwei Staaten, Slowenien und Kroatien, der EU an, während alle anderen noch außenstehen. Dennoch liegt zwischen den ex-jugoslawischen Staaten unzweifelhaft die für eine Vergleichbarkeit gebotene Homogenität vor, umso mehr als sie alle in einen Transformationsprozess eingetreten sind, wie er auch in anderen Staaten Mittel- und Osteuropas zu beobachten war.

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      Stellt man sich den europäischen Rechtsraum als ein aus mehreren Rechtskreisen gebildetes Ganzes oder als eine lange West-Ost Skala vor, so besteht eine erste Kontextualisierung der ehemaligen jugoslawischen Länder aus deren Zugehörigkeit zu Mittel- und Osteuropa. Zwar bilden die mittel- und osteuropäischen Länder keinen Block – das ist zunehmend unumstritten[12] – doch teilen sie ein gemeinsames Los im Übergang von sozialistischen zu rechtsstaatlich-demokratischen Regierungsformen.

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      Wie in den anderen post-sozialistischen Ländern fand in Jugoslawien die Wende mit Blick auf die Integration in den europäischen Rechtsraum statt. Der Übergang wird in dem schillernden Begriff der Transformation[13] und dem verschwommenen Slogan „zurück zu Europa“ zusammengefasst. Dieser nach den Balkan-Kriegen begonnene Übergang spielte sich in einem kurzen, intensiven und oft nicht oder nur oberflächlich verarbeiteten Prozess ab. Dabei bleibt sowohl unklar, wann diese Phase beendet ist[14] als auch inwieweit die Transformation einen Ausnahmezustand darstellt.[15] Der Übergang zum Rechtsstaat zeigte sich vor allem in verfassungsrechtlichen Garantien der richterlichen Unabhängigkeit, in neuen Strukturen wie den obersten Justizräten und der Neugründung und -besetzung von Verfassungsgerichten, die somit das Gelingen der Transformation in die Hand nehmen, garantieren und bezeugen sollten.[16]

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      Diese für die neue demokratische Ordnung besondere Rolle der Verfassungsgerichte wird allgemein mit dem Terminus „Aktivismus“ umschrieben. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sich diese Gerichte, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fördern, mitunter nicht scheuen, sich über den Wortlaut verfassungsrechtlicher Regelungen hinwegzusetzen, Gesetze der politischen Mehrheit für verfassungswidrig zu erklären oder unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

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      Der europäische Rechtsraum ist nicht auf die EU beschränkt, auch wenn diese sicher sein Herzstück bildet. Wirkt er also über die Grenzen der EU hinaus, so besitzt er dennoch Außengrenzen – daher das Bild des Raumes – und entfaltet eine eigene Dynamik.[17] Ziel dieses Beitrags ist es, die Verfassungsgerichtsbarkeit in den ehemals jugoslawischen Staaten in einen Zusammenhang mit diesem europäischen Rechtsraum zu bringen und zu zeigen, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in ex-Jugoslawien nicht nur eine spezifische, vor allem historisch bedingte Eigendynamik, sondern auch viele nationale Eigen- und Besonderheiten aufweist. Dies gilt es, mit den Standards des europäischen Rechtsraumes zu vergleichen, insbesondere im Hinblick auf den horizontalen und vertikalen Verbund der betroffenen Rechtsordnungen mit den anderen europäischen Rechtssystemen sowie denjenigen der EU und der EMRK. Es soll deutlich gemacht werden, inwieweit sich die ex-jugoslawischen Verfassungsgerichte auf die durch den Verbund implizierte rechtliche Öffnung einlassen oder einlassen können und daran mehr oder weniger aktiv teilnehmen.

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      Deshalb werden zunächst in einem zweiten Abschnitt die Fragestellungen, die für die Einbeziehung der jugoslawischen Verfassungsgerichte in den europäischen Rechtsraum und deren Vergleich wichtig sind, näher umschrieben. In einem dritten Abschnitt wird sodann die rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrem Spannungsverhältnis zwischen historischem Erbe und Aufbruch zum europäischen Rechtsraum geschildert. Im vierten Abschnitt soll die Rolle der ex-jugoslawischen Verfassungsgerichte im politischen und rechtlichen bzw. rechtspolitischen Kontext aufgezeigt und damit ihre Möglichkeiten und Grenzen im europäischen Rechtsraum verdeutlicht werden.

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      Soll der europäische Rechtsraum den Bezugsrahmen liefern, so gilt es zu untersuchen, inwieweit die Verfassungsgerichtsbarkeit einen positiven Beitrag leistet oder geleistet hat, um die für eine Aufnahme in die EU nötigen Voraussetzungen zu erfüllen oder die für die Mitgliedstaaten bindenden Verpflichtungen, z.B. die EMRK, umzusetzen. Diese Fragestellung knüpft an den Transformationsprozess und seine Qualität an. Wie stark haben sich die hier untersuchten politischen Systeme gewandelt und welche Rolle haben dabei die Verfassungsgerichte gespielt? Ein wichtiges Indiz stellt der verfassungsgerichtliche Aktivismus dar. Dieser scheint seinerseits zwar nicht ausschließlich, aber doch stark vom Wandel der Rechtskultur beeinflusst zu sein. Es sei deshalb zunächst nach dem Zusammenhang zwischen Rechtskultur und Verfassungsgerichtsbarkeit gefragt (1.), um dann die Problematik der sozialistischen Rechtskultur in der Perspektive des europäischen Rechtsraumes näher zu erläutern (2.).

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      Rechtskultur ist nicht nur ein schillernder, sondern auch ein höchst umstrittener Begriff. Nach Friedman bezeichnet er Ideen, Werte, Verhalten und Meinungen von Menschen einer Gesellschaft über das Recht und das Rechtssystem.[18] Nelken umschreibt sie folgendermaßen:

       „The identifying elements of legal culture range from facts about institutions such as the number and role of lawyers or the ways judges are appointed and controlled, to various forms of behaviour such as litigation or prison rates, and, at the other extreme, more nebulous aspects of ideas, values, aspirations and mentalities. Like culture itself, legal culture is about who we are not just what we do“. [19]

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      In seiner kritischen Auseinandersetzung erwähnt


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