Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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auf den Nationalstaat zentrierte Analysen zu fördern[21] und dabei Gefahr zu laufen, nationale Homogenität oder gar Hegemonie zu proklamieren und unmerklich die Rechtskultur der Mentalität oder der Rasse gleichzusetzen.[22] Gleichzeitig wird kritisch angemerkt, die Rechtskultur stelle einen viel zu weiten, abstrakten und unbestimmten Begriff dar,[23] um operabel sein zu können oder, um mit Nelken zu formulieren: „ist Rechtskultur die Frage oder die Antwort?“[24]

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      Der erste Einwand gegen den Begriff der Rechtskultur kann weitgehend mit dem Hinweis auf die Vielfalt der Rechtskulturen – individuelle, kollektive, regionale, supranationale Rechtskulturen – entkräftet werden. Wegen dieser Vielfalt und der Tatsache, dass mehrere Kulturen für eine bestimmte Gruppe relevant sein können, dass Kultur sich eben auch aus konkreter Erfahrung speist, ist sie nicht als statisch, sondern als grundsätzlich dynamisch aufzufassen und nicht unbedingt auf die staatliche Ebene beschränkt.[25] Indem sie Rechtskultur nicht als statisches und geschlossenes Konzept, sondern als beweglich und offen begreift, begegnet diese Sichtweise auch dem Risiko einer ontologischen, zur Rasse tendierenden Betrachtungsweise.[26] Der zweite Vorbehalt scheint schwerwiegender. In der Tat bezieht sich die Rechtskultur sowohl auf die „rechtsinterne“ Sichtweise, das heißt die Art wie Juristen ihren Beruf auffassen und praktizieren, als auch auf die „rechtsexterne“, welche so verschiedenartige Phänomene wie Auffassungen, Ideologien, aber auch Verhalten der Gesellschaft in Bezug auf Recht und Rechtssystem beinhalten. Es ist jedoch möglich, diesen so weiten und abstrakten Begriff in unterschiedliche Bestandteile zu zerlegen und jeweils getrennt zu analysieren.[27] Dies wird im Folgenden so oft wie möglich unternommen. So wird die interne Sichtweise insbesondere in die Begriffe Rechtsverständnis, juristisches Denken und Auslegungsmethoden oder Argumentationsmuster aufgegliedert. Bei der externen Sichtweise kommen vor allem das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung und deren Vertrauen in die Justiz zur Sprache. Für beide Sichtweisen ist auch die Rechtstradition relevant.

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      Trotz aller Bedenken scheint der globale Begriff der Rechtskultur nicht immer fehl am Platz,[28] vor allem dann nicht, wenn die zahlreichen Interaktionen und Wechselbeziehungen zwischen den genannten Elementen bedacht werden sollen.[29] Wenn z.B. nach allgemeiner Auffassung das Recht einen Spiegel der Tradition darstellt – so wie in Großbritannien – und nicht ein Instrument politischer tabula rasa – wie während der französischen Revolution –, dann erscheint es logisch, dass sich dieses Verständnis sowohl auf die richterliche Entscheidungsfindung und die Auslegungsmethoden als auch auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung niederschlägt. Sicherlich handelt es sich hier nicht um Kausalität im engen Sinn, sondern eher um gegenseitige Bedingtheit, denn der Einfluss könnte auch in die Gegenrichtung wirken; gleichwohl besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ein Grundverständnis konkrete Wirkungen entfaltet.

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      Gerade in dieser Hinsicht treffen Rechtskultur und Verfassungsgerichtsbarkeit aufeinander. Die Arbeitsmethoden und der allgemeine Stil eines Verfassungsgerichts[30] sind nicht nur Ausdruck einer bestimmten Technik, sondern machen eine Aussage zum Grundverständnis des Rechts und des Richteramts in der jeweiligen Gesellschaft. Noch konkreter ausgedrückt: wenn ein Verfassungsgericht Aktivismus betreibt – ganz gleich, ob aus „altruistischen“ Gründen der Demokratieförderung oder mit dem egoistischen Ziel, mehr Macht zu erlangen, – dann kann man doch davon ausgehen, dass dieses Gericht nicht nur eine textliche mikroskopische, sondern vor allem eine substantielle makroskopische – oder sogar teleologische – Vision des Rechts hat. Genau dies ist der Punkt, an dem die vom Sozialismus übernommene Rechtskultur einer Integration in den europäischen Rechtsraum entgegen zu stehen scheint.

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      Damit die ex-jugoslawischen Verfassungsgerichte eine aktive Rolle in der Transformation wahrnehmen und damit den Weg in den europäischen Rechtsraum ebnen können, scheint in der Tat ein Wandel der früher dominanten Rechtskultur erforderlich.

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      Obwohl Jugoslawien im sozialistischen Lager einen politischen Sonderweg gegangen war, hat sich dies nicht wesentlich auf das Rechtsverständnis, das juristische Denken und das Rechtsbewusstsein niedergeschlagen. Die Frage ist allerdings, ob der Rechtsnihilismus,[31] ein insbesondere von Margareta Mommsen und Angelika Nußberger am russischen Beispiel anschaulich gemachter Begriff, in Jugoslawien ebenfalls vorherrschte. Der Begriff „Rechtsnihilismus“ bezeichnet ein fast genauso weites und abstraktes Phänomen wie derjenige der Rechtskultur, da er sowohl das grundsätzliche Rechtsverständnis als auch das methodische Instrumentarium der Juristen, vornehmlich der Richter, und schließlich das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung umfasst. Im Falle Russlands bedeutet er eine gewisse Negierung oder gar eine Art Verachtung des als prinzipiell ungerecht empfundenen Rechts. Diese Überzeugung war bereits in der nationalen Tradition verankert und kam dann unter der kommunistischen Ideologie zugespitzt zum Ausdruck in der Idee des „Absterben des Staates“, die das „Absterben des Rechts“ nach sich ziehen sollte. Doch hat sich diese Idee wegen des drohenden Chaos nicht durchsetzen können. Stattdessen wurde die sozialistische, der Partei dienende Legalität gefeiert, die gleichwohl durch die auch dem Rechtsnihilismus innewohnende Herabsetzung und Instrumentalisierung des Rechts geprägt war. Das System Putin mündet so, wie von Mommsen und Nußberger beschrieben, in eine gelenkte Justiz und eine gelenkte Demokratie. Nun hat die Idee des „Absterbens des Rechts“ in Jugoslawien nie Ansehen gewonnen, da der Staat – und damit das Recht – in der Selbstverwaltung aufgehen sollten. Insofern war es folgerichtig, die Selbstverwaltung mit einem Verfassungsgericht zu flankieren. Dennoch finden sich auch in Jugoslawien Ähnlichkeiten mit dem System des Rechtsnihilismus.

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      Das Phänomen des Rechtsnihilismus außerhalb Russlands wird im Hinblick auf die mitteleuropäischen Staaten, das heißt Polen, Ungarn, die tschechische Republik und die Slowakei, vor allem von Zdenĕk Kühn[32] beschrieben. Er unterstreicht die durch den Kommunismus verursachte Rückständigkeit der Rechtswissenschaft, die sich hauptsächlich auf die im 19. Jahrhundert gepriesene Exegese stützte und so die Richter- und Juristenausbildung unter dem Sozialismus prägte. Dies führe zu einem streng formalen und rechtspositivistischen[33] Verständnis, welches Kühn als „mechanisches Denken“[34] bezeichnet. Von den Gesetzen wird erwartet, dass sie alles erschöpfend regeln und von der Richterschaft, dass sie keinerlei Ermessen bei deren Auslegung ausübt und sich ausschließlich auf das Gesetz beruft. Da sich dies in der Praxis oft als unmöglich erweist, werden viele Gesetze nicht angewendet,[35] in informellen Verfahren[36] durchgesetzt oder aber umgangen. Auch hier sieht man, wie die grundsätzliche Anschauung – die sozialistische „Rechtsphilosophie“ – sich auf die täglichen Arbeitsmethoden und die juristische Technik auswirkt.

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      Im Ergebnis bedeutet das „mechanische Denken“ eine Arbeitserleichterung und fördert eine gewisse Blindheit für die wachsende Komplexität des Rechts, denn die Rechtsfiguren und Argumentationsmuster stützen sich hauptsächlich auf die Auslegung nach dem Wortlaut, die zu einer einzig richtigen Lösung führen soll. Oft wird die Rechtsordnung auf die Alternative von geltendem, bindendem oder nicht bindendem Recht reduziert.[37] Es wird damit deutlich, dass es dieser Rechtskultur schwerfällt, Völkerrecht oder ausländisches Recht anzuerkennen oder zu berücksichtigen und dass ihr auch die Kategorie des soft-law fremd ist.

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      Diese Deutung ist in den letzten Jahren bisweilen als ideologisch sowie nicht eindeutig genug begründet kritisiert und daher bezweifelt worden.[38] Insbesondere wird vorgebracht, dass Formalismus kein spezifisches Merkmal einer sozialistischen Rechtskultur darstellen könne, da die gesamte Rechtswissenschaft und -praxis formalistisch geprägt sei. Ferner sei diese Qualifizierung viel zu abstrakt und ungenau, um als Charakteristikum einer Rechtskultur dienen zu können. Daran ist sicher richtig, dass juristischem Denken unweigerlich formalistische Elemente innewohnen und auch,


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