Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
sich ein etwas komplexes Bild aus Zurückhaltung, Sachverstand und Aktivismus. Zurückhaltung drückt sich nicht wie in Serbien oder anfangs in Kroatien durch Aufschiebungs- oder Vermeidungsstrategien aus, sondern eher in offen regierungsfreundlichen Entscheidungen. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass das Verfassungsgericht ein gutes technisches Niveau erreicht hat, welches die politischen Präferenzen weitgehend zu verschleiern vermag.
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Der Aktivismus des slowenischen Verfassungsgerichts kam besonders stark zum Ausdruck im sogenannten Fall der „ausgestrichenen“ Bürger. Es handelt sich um Bürger der früheren SFRJ, die zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit ihren Wohnsitz in Slowenien hatten. Sie wurden zunächst aus dem Register der Staatsbürger gestrichen und später auch aus dem der permanent residierenden Ausländer. Das Verfassungsgericht hat sich mehrmals damit befasst; in zwei Entscheidungen hat es die Verfassungswidrigkeit dieser (Nicht-)Regelungen festgestellt und den Gesetzgeber aufgefordert, eine Erlaubnis für permanenten Wohnsitz rückwirkend zu gewähren.[128] Der Widerstand der parlamentarischen Mehrheit konnte allerdings erst durch eine Entscheidung des EGMR gebrochen werden.[129]
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Aktivismus offenbart sich ebenfalls in der reichhaltigen Rechtsprechung zu Volksentscheiden. In Slowenien sind Instrumente direkter Demokratie hoch entwickelt und weit verbreitet.[130] Auf nationaler Ebene wird insbesondere das Gesetzesreferendum praktiziert, welches bis 2013 fast unbegrenzt eingesetzt werden konnte und es vor allem der Opposition ermöglichte, über das Gesetzgebungsverfahren hinaus die Projekte der Regierung anzugreifen oder gar die Regierung zu stürzen. Diese missbräuchliche Praxis sollte durch die Verfassungsänderung von 2013 verhindert werden.[131] Nunmehr steht die Initiative für Volksentscheide nur noch den Bürgerinnen und Bürgern zu und nicht mehr den Abgeordneten. Ferner wurden gewisse Materien ausgeschlossen[132] und die Abstimmungen auf Gesetzesaufhebungen[133] beschränkt, sofern ein Fünftel der Stimmberechtigten dafür stimmt. Dem Verfassungsgericht ist die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Bürgerentscheide anvertraut. Von den vom Gericht zugelassenen Volksentscheiden[134] sind zwei exemplarisch für die „oppositionelle“ Haltung des Verfassungsgerichts in gesellschaftlich wichtigen Bereichen zu nennen: das Urteil über Renten[135] und das zum Familienrecht,[136] in denen das Verfassungsgericht jeweils gegen die parlamentarische Mehrheit entschieden hat.
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Vorsicht oder Regierungstreue dominieren dagegen in der übrigen Rechtsprechung bezüglich der Verfassungsmäßigkeit von Volksentscheiden. Die Mehrzahl dieser Abstimmungen wurde, gemäß den Wünschen des Parlaments, für verfassungswidrig erklärt und deswegen nicht zugelassen. Einen krassen Kontrast zwischen zunächst Regierungstreue, dann aber Einsatz für den Rechtsstaat stellt schließlich die „Patria Affäre“ dar, in der ein früherer Regierungschef wegen Korruption verurteilt wurde. In einem ersten Verfahren, drei Wochen vor der Wahl, zu welcher der Antragsteller und Oppositionschef kandidieren wollte, hat das Verfassungsgericht seine Verfassungsbeschwerde abgewiesen, weil offensichtlich keine Verletzung seiner Grundrechte vorliege, so dass er seine Gefängnisstrafe verbüßen musste und nicht zur Wahl antreten konnte. Wenige Monate später hat das Gericht seine erneute Beschwerde für begründet erklärt, eine schwere Verletzung seiner Grundrechte anerkannt und seine Entlassung aus dem Gefängnis veranlasst.[137]
b) Aktivismus als Beitrag zur Transformation
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Wie kann man Fortschritt von Demokratie und Rechtsstaat messen? In der Lehre[138] wird vorgeschlagen, dies anhand von hard cases zu prüfen, das heißt Entscheidungen über institutionelle Grundstrukturen oder politisch brisante Fragen. Diesem gleichsam „internen“ Maßstab könnte die Frage hinzugefügt werden, inwieweit eine Entscheidung die Politik tatsächlich geändert hat oder ändern konnte (Performation).
aa) Wichtige Inhalte im Hinblick auf verfassungsrechtliche Grundsätze
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Wichtige Inhalte verfassungsgerichtlicher Urteile betreffen die Werte, Strukturen oder die wesentlichen Akteure der jeweiligen Ordnung.
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Für den Kosovo sind in diesem Zusammenhang die bereits erwähnten den Staatspräsidenten betreffenden Entscheidungen von 2010 bis 2012 zu nennen.[139] Hier soll exemplarisch nur die erste Entscheidung[140] kurz umrissen werden. Sie betraf die Ämterhäufung des Staatspräsidenten, der gleichzeitig auch Parteivorsitzender war. Nachdem das Gericht die verfassungsrechtliche Stellung des Präsidenten als unabhängige und einheitsstiftende Institution dargelegt hatte, stellte es fest, dass der Präsident trotz des offiziellen Einfrierens seines Parteivorsitzes de facto die Partei weiter geleitet habe. Dies stelle eine schwere Verletzung der Verfassung dar, die eine Amtsenthebung nach sich ziehen müsse. In diesem und weiteren spektakulären Fällen wäre es jedes Mal möglich gewesen, die Klage als unzulässig abzuweisen.[141] Das Gericht ist jedoch als Hüter der Verfassung und auch als Schiedsrichter aufgetreten;[142] es hat die verschiedenen Akteure angemahnt, ihre Funktionen nicht zu überschreiten. Die rechtsstaatlichen und demokratischen Dimensionen dieser Urteile sind offensichtlich, selbst wenn sie durch eine teilweise akrobatische Auslegung erreicht wurden.
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Auch in Bosnien-Herzegowina war das Wahlrecht bezüglich des Präsidiums und des Völkerhauses Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Die Klage griff zunächst die verfassungsrechtlichen Bestimmungen selbst[143] wegen Verletzung der EMRK[144] aufgrund der Beschränkung des passiven Wahlrechts der „Anderen“ an. Die „Anderen“, also diejenigen, die sich nicht mit einem der drei konstitutiven Völker identifizieren, können in der Tat wegen der bestehenden ethnischen Quoten weder in das Präsidium noch in das Haus der Völker gewählt werden.[145] Der Beschwerdeführer behauptete sowohl, dass die Wahlen unter diesen Umständen den Willen des Volkes nicht ausdrückten, als auch, dass die „Anderen“ diskriminiert und von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen seien. Dieser Fall bereitete dem Verfassungsgericht große Probleme, denn zunächst hätte es seine Kompetenz zur Prüfung der Verfassung selbst akzeptieren und sodann der EMRK Vorrang vor der Verfassung zugestehen müssen. Das Gericht war der Auffassung, dies gehe über seine Rolle und seine Zuständigkeit hinaus und wies die Klage ab. In der Begründung hat es darauf verwiesen, dass die EMRK in der bosnischen Rechtsordnung dank der Verfassung direkt anwendbar sei und Vorrang vor einfachen Gesetzen habe. Kurz darauf wurde dieselbe Klage gegen das einfachgesetzlich geregelte, aber wie in der Verfassung formulierte Wahlrecht eingereicht. Das Gericht hat auf sein vorausgehendes Urteil verwiesen, die Identität der verfassungsrechtlichen und der gesetzlichen Bestimmungen zum Wahlrecht betont und daher die Beschwerde mit derselben Begründung verworfen.[146] In einem ähnlichen Fall[147] hat es die Beschwerde zwar angenommen, sie aber mit dem Hinweis auf die noch immer notwendigen besonderen ethnischen Vorkehrungen in Bosnien-Herzegowina als unbegründet abgewiesen. Als sich dann der EGMR mit dem Fall Sejdic und Finci befasste, votierte er mehrheitlich für eine Verletzung des 12. Zusatzprotokolls. Der Gerichtshof erklärte insbesondere, die ethnischen Quoten stellten nicht unbedingt eine Konventionsverletzung dar, deshalb werde nicht ihre Aufhebung von Bosnien-Herzegowina verlangt, sondern lediglich eine Änderung unter Berücksichtigung der Minoritäten;[148] also eine Integration der „Anderen“ in das Quotensystem. Das Verfassungsgericht hat sich hier zwar als Hüter der Verfassung verhalten, aber doch die Gelegenheit verpasst, zur Demokratisierung beizutragen. Anscheinend war ihm der innenpolitische Konsens wichtiger.
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Das serbische Verfassungsgericht hat in erster Linie das parlamentarische repräsentative Mandat geschützt und eine mutige Auslegung gewagt, die zwar einer verfassungsrechtlichen Bestimmung widersprach, aber der Bewahrung der demokratischen Grundsätze diente. Es handelte sich um die Befugnis der politischen Parteien, ihren Mitgliedern das parlamentarische Mandat zu entziehen, falls diese die Partei wechselten. Die sogenannten blank resignations dienten