Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

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erscheint und manche Entscheidung motiviert. So hat beispielsweise das bosnische Verfassungsgericht ein Gesetz aufgehoben, welches die Freihandelszone im Rahmen des Mitteleuropäischen Freihandelsabkommens CEFTA untergraben hätte; auch hat es die Nichtdiskriminierungsgrundsätze des EuGH als geltende internationale Standards angewendet.[220]

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      Es ist noch zu früh, die Auswirkungen des kroatischen EU-Beitritts von 2013 zu beurteilen, jedoch kann man feststellen, dass weder in Slowenien noch in Kroatien das Unionsrecht vor dem Beitritt – wie 2004 im Falle von Polen und der Tschechischen Republik[221] – angewendet wurde, auch wenn in beiden Ländern eine eher europafreundliche Rechtsprechung vorherrschte. Der Wandel der Rechtskultur wurde demnach nicht als so dringlich empfunden, dass man ihn hätte vorwegnehmen müssen. Im Gegenteil, das slowenische Verfassungsgericht hat sich bisweilen recht formalistisch gegen eine „voreilige“ Anwendung des Unionsrechts gewandt[222] und sich im Übergangsstadium auf eine bescheidene Rolle beschränkt, während sich das kroatische Verfassungsgericht immerhin auf eine Auslegung des nationalen Rechts im Lichte des Unionsrechts eingelassen hat.[223]

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      Die verfassungsrechtliche Grundlage der Mitgliedschaft in der EU geht in Slowenien auf eine 2003 in die Verfassung eingefügte Europa-Klausel zurück, die Kompetenzübertragungen auf internationale Organisationen gestattet, sofern diese Menschenrechte, Demokratie und rechtsstaatliche Grundsätze beachten.[224] Diese Öffnung der Verfassung kann auch als verfassungsrechtlicher Vorbehalt gelesen werden. Die Kompetenzübertragung und somit der Beitritt zur EU erfolgt durch einen mit Zweidrittelmehrheit angenommenen Parlamentsbeschluss nach einem zwar fakultativen, aber bindenden Volksentscheid, in dem die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreicht. Der entsprechende Volksentscheid fand am 23. März 2003 statt und wurde von 89,61 % der gültigen Stimmen befürwortet. Die Rechtsakte und Entscheidungen völkerrechtlicher Organisationen werden in Slowenien gemäß der Rechtsordnung dieser Organisationen angewendet. Sie können also nicht durch innerstaatliche Bestimmungen geändert werden. Schließlich sieht Art. 3a der Verfassung vor, dass die Regierung die Nationalversammlung über die entsprechenden Rechtsakte oder Entscheidungen informiert und die diesbezüglichen Stellungnahmen beachtet. Das Nähere soll ein mit Zweidrittelmehrheit angenommenes Gesetz regeln. Dieses Gesetz wurde vom Nationalrat, der zweiten Kammer des Parlaments, angefochten, da es dem Nationalrat keine eigene Rolle bei der Subsidiaritätskontrolle einräumt. Das Verfassungsgericht hat diese Klage mit dem Hinweis auf Art. 3a der Verfassung, der nur die Nationalversammlung erwähnt, und auf die innerstaatliche Zuständigkeit in diesem Bereich abgewiesen.[225]

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      In Kroatien wurde die rechtliche Grundlage der EU-Mitgliedschaft ausführlicher und spezifischer geregelt. Gemäß Titel VIIa der kroatischen Verfassung[226] ergeben sich die Modalitäten des Beitrittsverfahrens aus den Bestimmungen über Assoziierungen mit anderen Staaten. Sie verlangen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und einen obligatorischen Volksentscheid, bei dem die einfache Mehrheit genügt. Dieser Volksentscheid fand am 22. Januar 2012 statt und wurde von 66,3 % der gültigen Stimmen befürwortet. Die Mitgliedschaft von Kroatien in der EU soll insbesondere der Einheit Europas, einem andauernden Frieden, der Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt dienen, wobei die Grundprinzipien und -werte der Union zu beachten sind. Unter diesen Voraussetzungen – so kann man es auch hier interpretieren – überträgt Kroatien den EU-Institutionen die dafür notwendigen Kompetenzen. Art. 141b) der Verfassung ist sodann der Mitwirkung der kroatischen Bürger und Institutionen in der EU gewidmet und Art. 141c) bekräftigt die allgemeine Anwendung des acquis communautaire in Kroatien. Art. 141d) – und dies stellt eine Seltenheit dar – handelt von der Unionsbürgerschaft, indem er zunächst die daraus resultierenden Rechte den kroatischen und am Schluss auch allen anderen EU-Bürgern zusichert.

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      In Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit stellen sich insbesondere Fragen zum Vorrang des EU-Rechts und/oder zum Grundrechtsschutz sowie zu einer möglichen Vorlage an den EuGH. Dazu ist insgesamt anzumerken, dass die Verfassungsgerichte in beiden Ländern keine allgemeine Dogmatik ihrer Beziehungen zur EU entwickelt haben; ihr Verhalten erscheint bislang eher reaktiv.[227]

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      In Slowenien wird bereits seit Längerem über den Vorrang des EU-Rechts gegenüber der Verfassung diskutiert. Anscheinend stimmen die herrschende Lehre und das Verfassungsgericht heute überein, dass trotz des in Art. 3a) der slowenischen Verfassung gemachten Vorbehalts das EU-Recht Vorrang auch vor der Verfassung hat.[228] In Kroatien hat sich zwar das Verfassungsgericht seit dem Beitritt nicht zu diesem Thema geäußert, hat jedoch davor erklärt, dass die Verfassung über dem EU-Recht stehe.[229]

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      Direkt damit verbunden ist das Problem des Grundrechtsschutzes. Einerseits folgt nämlich die EU-Grundrechtecharta dem Prinzip des maximalen Schutzes, demzufolge die Rechtsordnung, die den höchsten Schutz gewährt, zur Anwendung kommt. Andererseits ist aber der Anwendungsbereich der Charta in Bezug auf das Handeln der Mitgliedstaaten umstritten.[230] Das slowenische Verfassungsgericht ist davon besonders betroffen, weil auch die slowenische Verfassung den Grundsatz des maximalen Grundrechtsschutzes verankert. In seiner sogenannten JATA-Entscheidung[231] hat es eine Prüfung der Äquivalenz der betroffenen Rechte angestellt. Daraus können jedoch unterschiedliche Folgerungen gezogen werden, die bis heute nicht geklärt sind. So könnte diese Prüfung auf der einen Seite als eine Äquivalenz-Vermutung angesehen werden, die auf längere Sicht eine gewisse Prüfungsabstinenz bedeutet, auf der anderen Seite aber wäre es genauso gut denkbar, dass das Verfassungsgericht sich damit ein Fenster zu einer Identitäts- oder einer ultra vires-Kontrolle geöffnet hat.

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      Was Vorlagen dieser Gerichte an den EuGH angeht, hat Slowenien das Vorlageverfahren bereits genutzt, während auch kroatische Gerichte dem Verfahren prinzipiell offen gegenüber stehen.[232] Im Zug der Finanzkrise, der Überwachung des übermäßigen slowenischen Defizits und der Umstrukturierung des Banksystems hat das slowenische Verfassungsgericht den EuGH mit interessanten Fragen im Hinblick auf die Bindungswirkung von soft law befasst.[233] Der slowenische Gesetzgeber hat nämlich in seinem Gesetz über das Bankwesen die sogenannte Bankenmitteilung der europäischen Kommission in innerstaatliches Recht umgesetzt und damit dieses soft law gehärtet. Als die Zentralbank von Slowenien dieses Gesetz anwenden und die Gläubiger verschiedener Banken verpflichten wollte, einen Teil der Schulden mitzutragen, wurde das Gesetz vor dem Verfassungsgericht angefochten. Das Parlament und die Regierung brachten vor, der Staat könne den Banken nur dann helfen, wenn dies unionsrechtlich zulässig sei, das heißt, wenn die Bankenmitteilung der Kommission befolgt würde. Das slowenische Verfassungsgericht stellte dem EuGH zunächst die Frage nach der Bindungswirkung der Bankenmitteilung gegenüber den Mitgliedstaaten, um dann Fragen nach der Unionsrechtskonformität der Bankenmitteilung, ihrem Verhältnis zum EU-Sekundärrecht, den Zuständigkeiten der Kommission und möglichen Verletzungen des Vertrauensgrundsatzes sowie des Rechts auf Eigentum anzuschließen. In seinem Urteil[234] hat der EuGH eine Bindungswirkung gegenüber den Mitgliedstaaten mit dem Hinweis abgelehnt, dass die Bankenmitteilung nur als Selbstbeschränkung der Kommission bei der Ausübung ihres Ermessens zu verstehen sei. Auch hat er die Gültigkeit und Grundrechtskonformität der Mitteilung bejaht. Das slowenische Verfassungsgericht hat dieses Urteil umgehend umgesetzt,[235] aber zwei Bestimmungen des Gesetzes über das Bankwesen wegen ihrer Verfassungswidrigkeit aufgehoben, weil sie den Gläubigern keinen effektiven Rechtsschutz gewährten. Den Argumenten des EuGH ist das Verfassungsgericht, insbesondere hinsichtlich des Vertrauensschutzes und des Eigentumsrechts, gefolgt. Es geht sogar so weit, zu erklären, dass „das grundsätzliche Verhältnis zwischen nationalem Recht und EU-Recht zugleich ein mit Verfassungsrang bindendes verfassungsrechtliches Prinzip darstellt.“[236]

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      Hat sich also die slowenische Rechtsprechung bereits mit mehreren europarechtlich relevanten Fällen auseinandergesetzt, so erweist sich das Verfassungsgericht trotzdem nicht als besonders eifriger Übersetzer und Umsetzer europäischer Standards. Im Ganzen gesehen macht seine Rechtsprechung einen eher zurückhaltenden, vielleicht sogar schüchternen Eindruck, jedenfalls


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