Die Klinik am See Staffel 3 – Arztroman. Britta Winckler

Die Klinik am See Staffel 3 – Arztroman - Britta Winckler


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das Fenster hindurch sahen Christine und ihr Hannes in diesem Augenblick den Arzt in seinem metallicbraunen Wagen davonfahren.

      Christine trat hinter ihren Schreibtisch. »Du kannst jetzt auch gehen, Hannes«, sagte sie in energischem Ton. »Ich habe noch zu arbeiten.«

      »So, du schickst mich also fort?« Funkelnd sah der junge Mann die Heimleiterin an.

      »Ja, für jetzt jedenfalls, Hannes«, erwiderte Christine mit wieder etwas weicher klingender Stimme einlenkend. »Versteh mich doch bitte!«

      »O ja, ich habe sehr gut verstanden«, brummte der Mann und schritt zur Tür. »Sehr gut sogar«, wiederholte er. »Aber wie du willst …« Ohne Gruß ging er und knallte die Tür hinter sich zu.

      Christine ließ sich auf den Stuhl fallen. Ein trockenes Schluchzen kam über ihre Lippen. Am liebsten hätte sie jetzt geweint. Teilnahmslos saß sie fast eine halbe Stunde hinter ihrem Schreibtisch. Sie kam sich so unendlich verloren vor. Nur langsam begann ihr Denkvermögen wieder normal zu werden. Nebelhaft zogen die letzten Geschehnisse vor ihrem geistigen Auge vorbei. Es tat ihr jetzt wirklich leid, dass der Besuch dieses sympathischen Arztes so unschön verlaufen war.

      Doch plötzlich brachte sie die Erinnerung an diesen Dr. Bernau auf einen Gedanken. Ganz schwach nur, aber mit jeder Minute, die verging, stärker werdend. Ernsthaft begann sie sich zu fragen, ob Dr. Bernau ihr geholfen hätte, herauszubekommen, was ihr fehlte, was die Blutanalyse bei Dr. Pröll ergeben hatte. Daran war sie nun in erster Linie interessiert, und sie würde nicht eher Ruhe finden, bevor sie das wusste. Aber wie sollte sie das erfahren? Sollte sie erst warten, bis man ihr das in der Klinik sagte? In ihrem Innern wehrte sich etwas dagegen, in eine Klinik zu gehen, sich dort einlegen zu lassen, ohne zu wissen, was es dafür für Gründe gab.

      »Ich muss es wissen«, flüsterte sie. »Ich will es wissen.«

      Mit leichtem Zorn dachte sie an Dr. Prölls Assistentin. Weshalb hatte die ihr keine Auskunft gegeben? Diese Frage beschäftigte Christine noch eine ganze Weile. Mit einem Mal aber fiel ihr etwas ein. Sie wollte nicht bis zum nächsten Tag warten und dann erneut bei Dr. Pröll vorsprechen. Sinnend starrte sie den Telefonapparat auf ihrem Schreibtisch an. »Ich werde anrufen«, murmelte sie. »Nicht als Christine Häußler, sondern als …, als ….« Sie wusste nicht weiter. Doch ganz plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie erinnerte sich wieder an ihren Besuch, an Dr. Bernau von der Klinik am See. Ja, dachte sie, das ist es. Ein Anruf von der Klinik am See zu Dr. Pröll zwecks Nachfrage wegen des dort bereits eingetroffenen Einweisungsscheines war doch eigentlich unverfänglich. Der Klinik gegenüber würde Dr. Pröll oder seine Assistentin bestimmt nicht so zurückhaltend sein.

      Es war verrückt, was sich in den folgenden Minuten hinter Christines Stirn abspielte. Sie wusste es, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Der Drang, zu erfahren, was ihr wirklich fehlte, war viel zu stark. Die Angst, von einer schlimmen Krankheit heimgesucht zu sein, einer Krankheit, die sie noch gar nicht einmal kannte, aber unbedingt wissen wollte, ließ ihre Eingebung zu einer fixen Idee werden. In sich versunken und schwere Gedanken wälzend, saß Christine noch eine ganze Weile schweigend hinter ihrem Schreibtisch. Immer wieder starrte sie den Telefonapparat an und kämpfte mit sich. Zögernd streckte sie die Hand aus und – entschlossen hob sie dann ab. Sie hatte sich endgültig durchgerungen. Ihre Hand zitterte leicht, als sie die Anschlussnummer von Dr. Pröll wählte. Was sollte sie aber sagen oder fragen, wenn sich Dr. Pröll meldete? Diese Frage geisterte plötzlich durch ihren Kopf. Sie wünschte sich in diesem Augenblick, dass der Arzt nicht erreichbar wäre.

      »Praxis Doktor Pröll …«

      Christine zuckte zusammen, als sie die Stimme einer Frau vernahm. Vielleicht war es die Sekretärin? Oder auch die Assistentin? Christine gab sich einen Ruck. »Hier ist die Klinik am See«, meldete sie sich. Ihre Stimme brauchte sie gar nicht erst zu verstellen. Sie klang von selbst etwas heiser und gepresst. »Ich möchte gern mit Herrn Doktor Pröll sprechen.«

      »Der ist leider jetzt außer Haus«, kam die Erwiderung. »Worum bitte geht es?«

      Christine schluckte. »Um eine Ihrer Patientinnen, von der wir heute einen Einweisungsschein erhalten haben«, antwortete sie.

      »Ich verstehe«, gab die Stimme zurück. »Es handelt sich wahrscheinlich um Frau Häußler. Sie ist die Einzige, die Doktor Pröll in die Klinik am See überwiesen hat.«

      »Das ist richtig«, fiel Christine der Frau, die, wie sie richtig vermutete, die Sekretärin des Arztes war, ins Wort.

      »Mein Anruf ist nur eine kurze Rückfrage …, wegen …, wegen …, einiger Ergänzungen in unserer Kartei.«

      »Da sprechen Sie am besten mit Frau Hellberg, das ist die Assistentin von Doktor Pröll«, erklärte die Sekretärin. »Sie weiß Bescheid. Augenblick, ich verbinde Sie. Hm, wen darf ich melden?«, wollte sie noch wissen.

      Den Bruchteil einer Sekunde zögerte Christine, stieß dann aber hervor: »Doktor Bernau …«

      »Moment, Frau Doktor …« In der Leitung knackte es, und eine Sekunde später erklang eine andere weibliche Stimme: »Hellberg, Assistentin bei Doktor Pröll – womit kann ich Ihnen helfen, Frau Doktor?«

      Christine riss sich zusammen. Sie konnte jetzt nicht mehr ausweichen. Mit ein wenig rau klingender Stimme brachte sie in kurzen Worten ihr Anliegen vor. Sie sagte etwas von Eintragungen in die Eingangskartei und auf den Aufnahmeschein. »Die Diagnosestellung von Herrn Doktor Pröll auf der Einweisung von Frau Häußler habe ich doch richtig gelesen und …«

      »Ja, Frau Doktor«, wurde Christine von der Assistentin lebhaft unterbrochen, »es handelt sich um eine akute myeloische Leukämie, wie die von mir selbst vorgenommene Blutanalyse ergeben hat.« Die Stimme der Assistentin bekam einen bedauernden Klang. »Arme Frau, sie wird es nicht mehr lange machen.«

      Christine war wie versteinert. Ihr Gesicht war kalkweiß nach dieser Mitteilung geworden. Sie brachte es gerade noch fertig, sich bei der Assistentin zu bedanken, und dann fiel ihr der Hörer aus der Hand. Zitternd legte sie ihn auf die Gabel.

      »Leukämie«, flüsterte sie fassungslos. Wenn sie auch nicht genau wusste, was myeloische Leukämie genau war und wie sie sich auswirkte, so war ihr aber dennoch klar, dass es sich um eine ungeheuer ernste und lebensbedrohende Krankheit handelte. Die letzten Worte von Dr. Prölls Assistentin »… sie wird es nicht mehr lange machen …«, schockierten Christine, lösten Angst und Verzweiflung in ihr aus. Sie konnte nicht mehr klar denken. Ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Viel hätte nicht gefehlt, und sie wäre in Tränen ausgebrochen. Sie hielt es nicht länger in ihrem Büro aus. Ihr gesamtes Inneres befand sich in Aufruhr. Ihre Glieder kamen ihr bleischwer vor, als sie sich erhob und aus dem Büro ging. Mit Mühe nur hielt sie sich aufrecht, und es kostete sie eine gewaltige Anstrengung, der im Hintergrund des Flures gerade auftauchenden Hannelore zuzurufen, dass sie sich nicht wohlfühlte und deshalb jetzt schon nach Hause fahren wollte.

      »Tun Sie das, Frau Häußler«, rief die junge Mitarbeiterin zurück, »und bleiben Sie ein paar Tage im Bett, damit Sie …«

      Das Weitere hörte Christine schon nicht mehr. Sie war schon bei ihrem Auto, stieg ein und fuhr davon. Noch nie war ihr der Weg bis nach Hause so lang vorgekommen wie an diesem Nachmittag. Mehr als einmal verschwamm das Band der Landstraße vor ihren Augen, die sich jetzt mit Tränen füllten. Christine war sich später gar nicht richtig bewusst, wie sie unbeschadet ohne irgendeine Karambolage oder gar einen Unfall nach Hause gekommen war – welcher gütige Schutzengel sie auf dieser Heimfahrt begleitet hatte.

      Ohne von ihrer hilfsbereiten Nachbarin bemerkt worden zu sein – Frau Wiese befand sich um diese Zeit wahrscheinlich auf einem ihrer gewohnten Spaziergänge – war sie in ihre kleine Wohnung gelangt.

      Gehetzt blickte sie sich um und trat dann an das Bücherregal. Sie brauchte nicht lange zu suchen, um das zu finden, was sie jetzt haben wollte – nämlich eines der medizinischen Fachbücher, die sie noch aus ihrer Ausbildungszeit als Krankenschwester hatte. Hastig blätterte sie in dem Werk und fand sehr rasch die Seiten, die von Leukämie handelten, von denen es die unterschiedlichsten Arten gab.

      »Akute


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