Die Klinik am See Staffel 3 – Arztroman. Britta Winckler

Die Klinik am See Staffel 3 – Arztroman - Britta Winckler


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nach Diagnosestellung drei bis vier Monate.«

      Für Christine war dieser Satz gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Das war zu viel für sie. Das Lehrbuch entglitt ihren kraftlos gewordenen Händen. Ein Schwindelgefühl ergriff sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schaffte es gerade noch bis zum Bett, ließ sich darauffallen und weinte hemmungslos.

      In ihrer verständlichen Angst, Verwirrung und Verzweiflung war sie außerstande, klar und logisch zu überlegen. Hätte sie das gekonnt, wäre ihr wahrscheinlich auch bewusst geworden, dass Leukämie – welcher Art auch immer – nicht unbedingt ein Todesurteil sein musste, dass diese Krankheit unter Umständen durchaus auch geheilt werden konnte. Bei klarem Nachdenken wäre ihr sicher auch aufgefallen, dass das Lehrbuch, in dem sie von den drei bis vier Monaten Überlebenszeit gelesen hatte, eine ältere Ausgabe war, deren Inhalt inzwischen durch neue medizinischwissenschaftliche Erkenntnisse teilweise schon überholt worden war, dass es auch bei Leukämie Erfolg versprechende Behandlungsmethoden gab, die eine Überlebenszeit zumindest um Jahre statt um Monate verlängern konnten.

      Doch Christine war eben nicht zu klarem Denken fähig. In ihrem Kopf war ein Gedankenchaos. Da vermischten sich Angst vor dem Sterben mit Verzweiflung und Resignation.

      *

      Eine eigenartige Unrast war in Dr. Bernau, als er am späten Nachmittag – eigentlich war es ja schon früher Abend – den Weg nach Auefelden einschlug. Mit irgendetwas war er unzufrieden. Auf Befragen hätte er aber nicht sagen können, was es war, das ihn seit Stunden schon in eine nachdenkliche Stimmung versetzte. Seit er das Kinderferienheim in Rottach verlassen und in aller Eile davongefahren war, beschäftigten sich seine Gedanken mit dem dort Erlebten. Immer wieder musste er an die junge Frau denken, die so eine frappante Ähnlichkeit mit Vera hatte. Er war gar nicht dazu gekommen, eine entsprechende Frage zu stellen. Die beiden Frauen hätten ihrem Äußeren nach durchaus Schwestern sein können. Was spielte es dabei für eine Rolle, dass sie verschiedene Nachnamen trugen? Die Heimleiterin in Rottach konnte ja verheiratet sein. Oder vielleicht verwitwet oder auch geschieden. Was wusste er denn von ihr? Nichts, außer, dass sie ihm irgendwie krank, leidend vorgekommen war.

      Dieser Mann, der so unverhofft aufgetaucht war und beinahe gewalttätig ihm gegenüber geworden wäre – war er etwa der Ehemann von Frau Häußler? Dr. Bernau wusste es nicht. Klar war ihm nur, dass dieser kraftstrotzende junge Mann enorme Eifersuchtsanwandlungen hatte. So gesehen musste er also irgendwie mit der Heimleiterin in einer nahen Beziehung stehen, denn sonst hätte er sich wohl kaum einen solchen Auftritt erlaubt.

      Schade, dachte Dr. Bernau, denn diese Christine Häußler hatte einen sehr sympathischen Eindruck auf ihn gemacht. Zumindest konnte er sich vorstellen, dass er sich gut mit der jungen Frau würde unterhalten können. Das hieß natürlich nicht, dass er in sie verliebt war, wie er auch gleich in Gedanken einräumte.

      Fest stand aber für ihn, dass ihn die Heimleiterin auf jeden Fall beeindruckt hatte. Er gestand sich ein, dass er gern mehr von ihr gewusst hätte.

      »Aber was soll’s?«, redete er mit sich selbst. »Sie scheint ja in festen Händen zu sein, und in fremden Revieren wildere ich nicht.« Das war eines seiner Prinzipien. So sehr er auch ein Faible für das andere schönere Geschlecht hatte, so wenig jedoch näherte er sich einer Frau, die offensichtlich zu einem anderen gehörte.

      Nachdem er von Rottach weggefahren war, hatte er zuerst den Tegernsee auf der Westseite umrundet und war schließlich in einem der Cafés in Gmund bei einem Kaffee und einem Stück Apfelkuchen gelandet. Seine Unzufriedenheit hatte sich aber keineswegs gelegt. Nun ja, seinen freien Nachmittag hatte er sich doch ein wenig anders vorgestellt. Der immerhin etwas peinliche Zwischenfall während seines Kurzbesuches bei der sympathischen Heimleiterin hatte seine Stimmung auch ein wenig beeinträchtigt. So stark sogar, dass er sich fast darauf freute, den heutigen Nachtdienst in der Klinik antreten zu können.

      Daran dachte Dr. Bernau auch jetzt, als er sich nach dem doch etwas langweiligen Café-Aufenthalt auf der Fahrt nach Auefelden befand. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er sich gar nicht zu beeilen brauchte. Es war noch nicht einmal sieben Uhr abends. Sein Nachtdienst begann erst um acht Uhr. Knappe vierzehn Tage noch. Dann musste er der Klinik am See Ade sagen. Die folgenden zwei Monate würde er in der Chirurgie der Münchener Universitätsklinik tätig sein und dann erst wieder in die Klinik am See zurückkehren. Zum einen freute er sich darauf, zum andern aber war auch ein kleines bisschen leise Wehmut in ihm, dass er für eine Zeit, wenn auch nicht sehr lange, die gewohnte Umgebung verlassen musste.

      »Ach was – ich komme ja bald wieder«, redete er sich ermunternd zu und lenkte seine Gedanken wieder in eine andere Richtung. Ohne es eigentlich zu wollen, erinnerte er sich erneut an Christine Häußler. Ob sie jetzt wohl zu Hause war und etwa den jungen Mann von heute Mittag beruhigte, ihm vielleicht wegen seines Benehmens die Leviten las?

      Dass diese junge Frau in diesen Minuten tatsächlich mit Hans-Günther Hornegg sprach, dass sie gerade mit ihm telefonierte, das wusste Dr. Bernau natürlich nicht. Er konnte daher auch nicht ahnen, was für ungeahnte Folgen aus der kurzen Unterhaltung, die Christine per Telefon mit Hannes führte, entstehen sollten.

      Christine hatte lange auf ihrem Bett gelegen und sich ihren verzweifelten Gedanken hingegeben. Das Gefühl für Zeit und Raum war ihr abhandengekommen. Der Abend hatte sich bereits eingestellt, als sie sich verwirrt vom Bett erhob. Sie hatte plötzlich das Verlangen, mit jemandem zu reden, einem Menschen ihre Verzweiflung mitzuteilen. Es war nur natürlich, dass sie dabei zuerst an Hannes dachte. Er liebte sie doch, und er musste sie verstehen. Wenn er ihr auch nicht würde helfen können, so war es doch tröstend für sie, wenn er wenigstens zu ihr stand.

      »Hannes, lieber, lieber Hannes, hilf mir doch«, flüsterte sie und griff nach dem Telefon. »Ich will noch nicht sterben.« Mit zitternden Fingern wählte sie seine Nummer und hoffte, dass er zu Hause in seiner Wohnung war. Das Geschäft hatte er um diese Zeit – es war wenige Minuten vor sieben Uhr abends – schon geschlossen.

      Sekundenlang ertönte das Freizeichen durch die Leitung. »Komm, Hannes, nimm schon ab!«, murmelte Christine. Wie ein Flehen klang es. Noch dreimal ließ sie das Freizeichen ertönen. Maßlose Enttäuschung überkam sie, die ihre Verzweiflung nur noch schlimmer machte. Resigniert wollte Christine den Hörer wieder auflegen, als es plötzlich in der Leitung knackte und am anderen Ende abgehoben wurde.

      »Hornegg …«

      »Endlich … Gott sei Dank, du bist da«, rief Christine erregt.

      »Ja, ich bin da – und was weiter?«, klang es kühl zurück. »Was willst du?«

      »Hannes, bitte, sei doch nicht so!«, bat Christine, die den abweisenden Ton in Hannes’ Worten deutlich herausgehört hatte. »Ich …, ich … brauche dich. Ich möchte mit dir reden. Mir geht es nicht gut. Ich werde bald sterben.« Fast flehentlich setzte sie hinzu: »Komm zu mir! Jetzt gleich.«

      »Wozu?«, fragte Hannes Hornegg patzig zurück. »Ich bin doch ohnehin abgemeldet bei dir. Du hast ja etwas Besseres gefunden.«

      »Sprich nicht so!« Christine war dem Weinen nahe. »Ich hab dich doch noch immer lieb.«

      »Das sah heute Mittag nicht danach aus«, kam die polternde Entgegnung. »Was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Und damit du es gleich weißt, Christine – glaube ja nicht, dass ich auf dich angewiesen bin. Es gibt auch noch andere Mütter mit hübschen Töchtern. Ich habe es wirklich nicht nötig, mich an der Nase herumführen zu lassen.«

      Christines Augen weiteten sich. »Hannes«, rief sie, nein, sie schrie es richtig, »du …, du … kannst mich doch jetzt nicht einfach fallen lassen.« Die Stimme wollte ihr versagen.

      »Weshalb sollte ich das nicht können?«, gab der junge Mann aufgebracht zurück. »Ich spiele nicht gern die zweite Geige, und was ich heute gesehen habe, das … Ach was«, unterbrach er sich. »Wozu viele Worte? Seit einigen Wochen schon bist du so abweisend zu mir. Das ist doch wohl deutlich genug. Oder?«

      »Hannes, ich bitte dich«, rief Christine flehentlich. »Das hatte nichts mit einem anderen Mann zu tun. Mein Gesundheitszustand …«

      »Das


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