IRONCUTTER - Die Geheimnisse der Toten. David Achord
Kunst, zur Schnecke gemacht zu werden.
Anna riss mich aus meinem Tagtraum. »Sie haben kaum ein Wort gesagt, seit wir losgefahren sind.«
Ich warf ihr einen Blick zu, und dabei bemerkte ich, dass wir bereits wieder bei Mick’s Place angekommen waren. Ich hielt neben ihrem Wagen an und sah durch das Schaufenster. Kim stand hinter dem Tresen und goss gerade einem Kunden ein Bier ein, Mick hielt auf dem Sofa ein Nickerchen. Ich räusperte mich.
»Ja, tut mir leid. Ich hätte Sie nicht einladen sollen. Wir kennen uns schließlich kaum, und ich bin mir sicher, dass Sie niemals zu mir ins Auto gestiegen wären, wenn Sie vom Tod meiner Frau gewusst hätten.«
»Das ist schon okay«, antwortete sie. »Kam nur etwas überraschend. Dieses Auto, hat Erinnerungen zurückgebracht, oder?«
»Ja«, gestand ich leise.
Sie sah mich an. »Eine Sache verstehe ich aber nicht. Wieso verdächtigt man Sie, sie umgebracht zu haben? Ihre Frau, meine ich. Wieso glaubt man, dass Sie der Mörder Ihrer Frau gewesen sind?«
Zuerst wollte ich ihr nicht antworten, doch dann beugte ich mich zu ihr hinüber. Uns trennten nur noch wenige Zentimeter, und wenn sie unsere plötzliche Nähe zueinander nervös machte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Wir sahen einander für einen Moment tief in die Augen und dann holte ich eine Zigarre aus meinem Handschuhfach. Ich lehnte mich zurück, knipste das Ende ab, und antwortete ihr, bevor ich sie anzündete.
»Die Ermittlungen in einer Todesursache beginnen immer mit der Grundannahme, dass jeder Tod ein potenzieller Mord sein könnte. Die Detectives, die auf den Fall angesetzt wurden, waren Freunde von mir. Man könnte sagen, dass sie deshalb die Standardvorgehensweise ignorierten und den Fall stattdessen ohne Tatverdacht abwickelten. Sie befragten Nachbarn, die bestätigen konnten, dass sie mich aus dem Haus hatten gehen sehen und nur einen einzigen Schuss etwa eine halbe Stunde später gehört hatten. Sie testeten mich auf Schmauchspuren, was negativ war. Das Gleiche bei ihr, dort waren sie natürlich positiv.
Der Fall war ziemlich klar, doch dann ging etwa einen Monat später plötzlich bei der Crime Stoppers Hotline ein anonymer Anruf von einer Person ein, die behauptete, ich hätte meine Frau umgebracht. Der Fall wurde daraufhin wieder aufgerollt und sie fanden heraus, dass mein Alibi nicht wasserdicht war.«
»Moment mal, was?«, rief sie.
»Mein Alibi. Es war frei erfunden, ausgedacht, gelogen«, sagte ich. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie mir dabei zu, wie ich mir meine Zigarre anzündete. Als das Ende schließlich rötlich glühte, drehte ich mich zu ihr um.
»Jetzt werden Sie mich fragen, warum ich das getan habe. Der Tod meiner Frau war ein Selbstmord, kein Mord, wieso hätte ich also wegen meines Alibis lügen sollen? Geben Sie sich keine Mühe, denn ich werde Ihnen keine Antwort darauf geben.«
»Okay«, sagte sie leise.
»Nachdem sich das Alibi als getürkt herausgestellt hatte, war ich natürlich geliefert. Sie nahmen mir meine Dienstmarke und meine Waffe ab und dann wurde ich an einen Schreibtischjob zwangsversetzt. Außerdem musste ich einen Lügendetektortest über mich ergehen lassen, während man parallel meine gesamte Laufbahn auseinandernahm. Egal, wie die Sache am Ende ausgehen würde – meine Karriere war damit im Grunde bereits am Ende. Mir wurde deshalb klar, dass ich eine Entscheidung fällen musste, und ich entschloss mich dazu, den Dienst zu quittieren.«
Ich hatte die Geschichte in den letzten zwei Jahren schon ein paar Mal erzählt und fragte mich, wieso ich sie eigentlich ständig wiederholte. So langsam wurde es langweilig. Entweder glaubte man mir oder man ging davon aus, dass ich ein Mörder war. Mich interessierte das alles nicht mehr.
»Ich denke, ich werde noch in einem Schnapsladen vorbeischauen, bevor die dichtmachen. Würden Sie mir einen Gefallen tun und diesem Duke ausrichten, dass er mich einfach anrufen soll, wenn er mit mir reden will?«
Anna nickte. »Klar. Ich denke, es wäre am besten, wenn sie beide sich einfach mal aussprechen. Er ist eigentlich ganz vernünftig.« Anna stieg aus dem Wagen und schloss die Tür, dann blieb sie noch einen Moment lang stehen. »Werden Sie Rhoda helfen?«, fragte sie.
»Ich werde mir den Fall mal genauer ansehen«, antwortete ich, »aber ich habe keine Ahnung, ob ich ihr helfen kann, ihn zu einem Abschluss zu bringen.«
»Sie ist eine sehr traurige alte Lady, und Sie sind ein sehr trauriger Mann.« Sie lief davon, bevor ich etwas darauf erwidern konnte.
Ich sah zu, wie sie in ihr Auto stieg und davonfuhr, dann kramte ich mein Telefon hervor. Ich wählte die Sprachsteuerung und sagte den Namen Ronald. Nachdem es ein paar Mal geklingelt hatte, nahm er ab.
»Was gibt es denn?«, meldete er sich.
»Ich habe zwei Namen für dich: Lester Gwinnette und Duke Holland. Lester arbeitete als Fahrer für Robard Trucking, bevor er sich umbrachte. Duke ist ein Rocker und ihm gehört ein Stripklub im Erwachsenenviertel. Er heißt Red Lynx, die Geschäftslizenz läuft aber vermutlich über einen anderen Namen.« Ich hörte, wie er im Hintergrund ein paar Sekunden lang auf der Tastatur herumtippte, dann sagte Ronald: »Es gibt von beiden eine Polizeiakte. So wie es aussieht, wurde Lester in den Achtzigern einmal wegen bewaffnetem Raubüberfall verhaftet, aber das scheint alles zu sein. Duke hingegen saß schon wegen einer ganzen Reihe von Delikten. Mal sehen … Waffen, Drogen, Körperverletzung. Bis vor einem Jahr war er auf Bewährung draußen. Seitdem nichts mehr.«
Ich grunzte. Ronald war auf seine Weise ein echtes Genie, aber leider vollkommen unfähig darin, Menschen zu verstehen. Vielleicht, weil er die meiste Zeit seines Lebens im Keller seiner Eltern verbracht hatte, wo ihm nur seine Computer Gesellschaft geleistet hatten.
»Nur weil man sie nicht eingebuchtet hat, heißt es noch lange nicht, dass sie keinen Dreck am Stecken haben. Stell mir bitte mal über jeden einen Bericht zusammen.«
»Wird gemacht. Du solltest sie morgen früh haben«, sagte Ronald. »Oh, übrigens: Ich habe einen Plan.«
»Ach wirklich?«
»Ja. Ich will eine Reihe von Optionsscheinen bei Russell 2000 erwerben. So etwa zehntausend von dir würden genügen. Innerhalb eines Monats sollten wir damit um die fünfzehn Prozent Gewinn gemacht haben.« Ronald war ein Computergenie und extrem introvertiert. Er liebte es, zwischen seinen Online-Spielen an der Börse zu spekulieren. Zehntausend war aber so ziemlich alles, was ich mir im Laufe der Jahre zusammengespart hatte.
»Ich weiß nicht, Ronald. Ich muss zum Monatsende noch Rechnungen bezahlen, und ich weiß noch nicht, wann ich für den Robard-Fall bezahlt werde.«
»Bis dahin habe ich das Geld doch wieder reingekriegt«, versprach er.
Ich zögerte, doch dann traf ich eine Entscheidung. »Meinetwegen, okay. Aber verliere nicht mein ganzes Geld.« Ronald kicherte und legte ohne eine Antwort auf.
Ich machte mich auf den Weg zum Schnapsladen.
Kapitel 5
Wenn auch schweigend, genossen Henry und ich unser Frühstück. Er hatte es vorgezogen, sich dieses Mal nicht um das Geschirr zu kümmern, sondern stattdessen nach draußen zu gehen und mir ein nettes Geschenk auf dem Rasen zu hinterlassen.
»Okay, dann mal los.« Es war an der Zeit, mit der Arbeit an dem Robard-Fall zu beginnen. Ich fuhr meinen Rechner hoch und öffnete die E-Mails von Ronald. Als ich sie ausdruckte, klingelte mein Telefon.
»Was machst du gerade?«, fragte mich Ronald, bevor ich überhaupt Hallo sagen konnte.
»Ich sehe mir Kleinwüchsigen-Pornos im Internet an.«
Ronald gluckste wie ein kleiner Junge. »Du siehst dir doch nie Pornos an.«
»Ich sitze an dem Robard-Fall. Was machst du?«
»Ich beobachte dich durch deine Überwachungskamera.« Ich sah zu der Kamera hinauf, die an der Decke befestigt war. Mein Sicherheitssystem