IRONCUTTER - Die Geheimnisse der Toten. David Achord
von einem Assistant Chief, der mich sowieso schon auf dem Kieker hatte. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie mich eines Tages doch noch einbuchten würden.« Ich sah sie an. Jetzt grinste sie nicht mehr. Die GPS-App auf meinem iPhone piepste und ließ uns durch seine körperlose Stimme wissen, dass wir unseren Zielort erreicht hatten.
»Wir sind da«, sagte ich und bog in die Einfahrt.
Kapitel 3
Der lang gezogene Weg aus Kies erinnerte mich an meine eigene Einfahrt: kurvig und von Bäumen gesäumt. Sie führte zu einem älteren, entzückenden, einstöckigen Farmhaus, das sich an den Fuß eines Berges schmiegte. Die Holzverkleidung hatte schon seit ein paar Jahren einen frischen Anstrich nötig und der von Unkraut überwucherte Rasen schrie förmlich nach einem Landschaftsgärtner.
»Wollen Sie im Wagen warten?«, fragte ich. Anna war wesensverändert, seit ich ihr vom viel zu frühen Ableben meiner Frau erzählt hatte. Sie nickte schweigend und zündete sich eine Zigarette an. Ich verstand sie durchaus.
Rhoda Gwinette, der ebenfalls eine Zigarette aus dem Mundwinkel hing, erwartete mich bereits an der Haustür. Die Tür stand offen, doch das Fliegengitter war mit einem billigen Schloss gesichert. Eines von der Sorte, die eher dafür gemacht waren, die Tür am Herausfallen zu hindern, als Eindringlinge fernzuhalten.
Wirklich attraktiv konnte man sie nicht nennen. Wahrscheinlich war sie das auch niemals gewesen. Sie war Ende fünfzig und hatte feuerrotes Haar, das sie mit jeder Menge Haarspray zu einer dieser Alte-Frauen-Frisuren zurechttoupiert hatte. Krähenfüße hatten sich tief um ihre Augen eingegraben und ihr Doppelkinn ließ sie noch weitere zehn Jahre älter aussehen. Die herabhängenden, mürrisch wirkenden Mundwinkel rundeten den Gesamteindruck ab. Ihre Körperform glich einer übergroßen Birne, die sie mit einer rostfarbenen Bluse und einer von diesen komischen dehnbaren Hosen verhüllte, die von fetten Frauen auf der ganzen Welt getragen wurden.
»Wer sind Sie?«, fragte sie gereizt.
»Ms. Gwinette? Ich bin Thomas Ironcutter. Ich bin ein Freund von Sheriff Harvey Wilson. Er bat mich, mit Ihnen über Ihren verstorbenen Ehemann zu reden.« Ich versuchte, ein nettes Gesicht aufzusetzen, aber ein richtiges Lächeln wollte mir einfach nicht gelingen. Eigentlich wollte ich nämlich gar nicht hier sein.
»Woher soll ich denn wissen, dass Sie mir die Wahrheit sagen?«, fragte sie mich ängstlich.
Ich schaffte es, die Augen nicht zu verdrehen, zog meine Brieftasche hervor und zeigte ihr meinen Ausweis. »Ich kann gern so lange hier draußen warten, während sie Harvey anrufen und sich das Ganze bestätigen lassen.«
Sie sah mich noch einen Moment lang an, dann entriegelte sie die Fliegengittertür. »Wollen Sie nicht hereinkommen?«, fragte sie mich. Ich nickte und folgte ihr in eine Küche, die wie es schien, seit den Sechzigern nicht mehr renoviert worden war. Arbeitsplatten und Geräte erstrahlten in einem matten Erbsengrün. Ein Hipster wäre beim Anblick des in die Jahre gekommenen Retro-Dekors bestimmt vollkommen von den Socken gewesen. Eine orange getigerte Katze hockte auf der Anrichte, wedelte mit dem Schwanz und starrte mich an. Rhoda bot mir einen Platz am Esstisch an.
»Das ist Tommy Boy«, sagte sie und deutete auf die Katze. »Er ist eine einzige Katastrophe, aber er ist alles, was ich noch habe.« Ich nickte verständnisvoll, während der Kater mich anstarrte – sie wissen schon, so wie Katzen einen eben anstarren, während sie Pläne schmieden, einen umzubringen.
»Ich wollte gerade frischen Kaffee aufsetzen. Hätten Sie gern einen?«
»Das wäre sehr nett.« Hoffentlich bekam ich nicht auch noch eine Handvoll Katzenhaare dazu. Sie nahm die gebrauchte Filtertüte voller Kaffeesatz aus der viel genutzten Mr. Coffee-Maschine, warf sie in einen übervollen Mülleimer und bereitete eine neue Kanne zu. »Mein Mann mochte ihn immer stark. Sie wahrscheinlich auch.«
Dieses Mal lächelte sie mich freundlich an. Das Spiel kannte ich schon. Sie war die Art von Person, die einem erst einmal eine Geschichte erzählen würde, bevor sie endlich zur Sache kam. Ich erinnerte mich an ein Interview in einer Talkshow im Fernsehen. Zu Gast war Anne Rule, eine bekannte Krimi-Autorin von wahren Verbrechensfällen gewesen. Sie hatte über Mörderinnen gesprochen und in diesem Zusammenhang angemerkt, dass Frauen in allem, was sie taten, immer ein Vorspiel benötigten. Eine treffende Beobachtung, die bei mir hängen geblieben war.
Während der Kaffee durch die Maschine lief, setzte sich Rhoda zu mir, zündete sich eine neue Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch über unsere Köpfe hinweg. »Die glauben alle, ich sei vor lauter Trauer durchgedreht, aber mein Mann wurde ermordet, Detective. Wenn es sein muss, nehme ich die Gewissheit mit ins Grab.«
»Erzählen Sie mir von ihm«, ermunterte ich sie. Ich hatte so ein Gefühl, dass sie mit einer sehr langen Hintergrundgeschichte aufwarten würde, also wollte ich es möglichst schnell hinter mich bringen. Schließlich wollte ich vor Mitternacht wieder zu Hause sein.
»Lester und ich lernten uns 1980 am Weihnachtsabend kennen. Ich arbeitete als Kellnerin in einem Truck Stop. Es war eine kalte Nacht und das Restaurant war so gut wie ausgestorben. Er war schon den ganzen Tag und die ganze Nacht unterwegs gewesen, als er schließlich bei mir eine Pause einlegte.« Eine plötzliche witzige Erinnerung ließ sie auflachen. »Er war wirklich ein großer Redner gewesen … was er alles für Dinge zu mir gesagt hatte. Nach meiner Schicht nahm ich ihn mit zu mir nach Hause, und von da an waren wir zusammen.«
Ihre Augen funkelten, als die Erinnerungen zu ihr zurückkehrten. Während der Kaffee kochte, durchlebte sie schweigend noch einmal die letzten sechsunddreißig Jahre. Ich schwieg, widerstand dem Drang, auf die Uhr zu sehen, und wartete stumm. Dann füllte sie zwei Tassen und schien sich gar nicht daran zu stören, dass ich meine Tasse mit dem Inhalt meines Flachmanns auffüllte. Nach einem tiefen Zug aus ihrer Zigarette fuhr sie fort:
»Die letzten zehn Jahre hat er als Selbstständiger für die Robard Trucking Company gearbeitet.«
Na, wenn mir das mal nicht bekannt vorkam. Ich glaubte nicht unbedingt an Schicksal, aber hier ging definitiv etwas vor sich. »Die Robard Trucking Company?«, versicherte ich mich.
»Jawohl, Sir. Er sprach hin und wieder über die Firma, aber es interessierte mich nicht allzu sehr. Er schien die meiste Zeit über zufrieden mit seiner Arbeit zu sein.« Sie verstummte und neigte ihren Kopf zur Seite.
»In den letzten Jahren begann er allerdings, sich eigenartig zu verhalten. Er erzählte mir immer, wenn er auf eine längere Tour ging, und verriet mir auch, wohin sie ging, außer, wenn er nach Kanada fuhr. Hin und wieder erledigte er nämlich auch Fuhren nach Kanada, hin und zurück. Das waren allerdings keine regelmäßigen Fahrten, und wenn diese an der Reihe waren, erzählte er mir nichts davon. Er sagte dann nur, dass er in ein paar Tagen wieder zurück sein würde. Ich fragte mich immer, warum er so geheimnisvoll tat.« Ein leises Klopfen unterbrach uns. Anna stand plötzlich draußen vor dem Fliegengitter.
»Darf ich reinkommen?«, fragte sie. Rhoda wurde plötzlich nervös.
»Das ist schon okay, Rhoda, sie gehört zu mir.« Rhoda wirkte schlagartig erleichtert und öffnete ihr die Tür. Anna nahm zögernd Platz und Rhoda goss ihr ungefragt einen Kaffee ein.
»Was glauben Sie, warum er Kanada nie erwähnt hat?«, fragte ich Rhoda, als sie wieder am Tisch saß.
»Ich schätze mal, die Kanada-Transporte waren irgendwie illegal, und aus diesem Grund wollte er mir nichts darüber sagen, Detective Ironcutter. Das war seine Art, mich zu beschützen, und vielleicht schämte er sich auch ein wenig, in so einer Sache drinzustecken.«
Erneut folgte eine Pause des Schweigens. Ich bemerkte, wie Anna mich fragend ansah, so als ob sie etwas fragen wollte. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Rhoda sollte mir ihre Geschichte auf ihre Weise erzählen.
»In der letzten Woche seines Lebens veränderte sich dann noch etwas. Er wirkte auf einmal besorgt. Ständig lief er im Haus auf und ab, zündete sich eine Zigarette nach der anderen an, auch wenn die andere noch gar nicht ganz aufgeraucht war. Manchmal wachte er auch