Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


Скачать книгу
Ire­ne Ever­stein das Blatt für Blatt mit Trä­nen ge­tränk­te Buch, über wel­chem ich sie jetzt über­rascht hat­te, of­fen hin.

      Ganz nahe beug­te sie sich zu mir und flüs­ter­te mehr, als dass sie sprach:

      »Sage ihm, dass ich al­les weiß, was er für mich ge­tan hat, um mich ge­tan hat! Er hat sein Le­ben dar­an ge­setzt, und er hat nicht nach rechts und nach links ge­se­hen, son­dern nur rück­wärts nach der Stun­de, in der wir, ich und er, Ab­schied von­ein­an­der nah­men. Ich bin das Weib ei­nes an­de­ren Man­nes ge­wor­den, und er hat sei­nen Wil­len durch­ge­setzt, um mich zu de­mü­ti­gen und zu dem Ge­ständ­nis mei­ner Schuld ge­gen ihn zu brin­gen…«

      »Nein, nein! Das ist nicht so! Ire­ne Ever­stein, das ist wahr­haf­tig nicht so!« rief ich.

      »Das ist doch so!« ant­wor­te­te sie kopf­schüt­telnd, aber ganz sanft. »Sieh, Freund, er und ich ha­ben uns im­mer zu gut ge­kannt, um nicht bes­ser als all ihr üb­ri­gen zu wis­sen, wie es um uns steht. Es ist auch ganz das Rich­ti­ge, was er ge­tan hat, und ich gön­ne ihm sei­nen Sieg und sei­nen Tri­umph; – ich freue mich, dass er so stark und so tap­fer ge­we­sen ist und im Still­schwei­gen! Wäre ich sei­ne Schwes­ter, wie un­se­re lie­be Eva, so wäre mein Glück voll­kom­men! Aber ich bin nicht sei­ne Schwes­ter – ich bin nicht sein Weib ge­wor­den – sieh, Fritz Lan­greu­ter, die Son­ne steht uns klar und hell über den Köp­fen, und in ih­rem Schei­ne spre­che ich zu dir klar und hell, und eine al­ber­ne frau­en­zim­mer­li­che När­rin bin ich nie ge­we­sen: ich ge­hör­te ihm zu, und er ge­hör­te zu mir von Got­tes und Rechts we­gen, seit wir un­se­ren Kin­der­haus­halt im Spiel in den grü­nen Bü­schen von Schloss Wer­den auf­schlu­gen! Er aber weiß das, und jetzt, da mei­ne Ju­gend da­hin ist und da ich als Bett­le­rin bei dem gu­ten, barm­her­zi­gen, wei­sen Mann, dem Vet­ter Just, hier auf dem Stein­ho­fe sit­ze, da ich bin, was ich bin, kommt er – der Un­barm­her­zi­ge, und ich füh­le sei­ne tap­fe­re treue Hand wie mit ei­nem bö­sen zor­ni­gen Griff und Schüt­teln an mei­ner Schul­ter! Mir ge­hört heu­te dei­nes Va­ters Haus, dei­net­we­gen ge­hört es mir; ich habe in der Frem­de, im Still­schwei­gen in der Ar­beit, die lan­ge, lan­ge Zeit durch, dich kei­nen Au­gen­blick aus mei­nen Sin­nen und Ge­dan­ken frei­ge­las­sen, nun nimm dei­ne Kraft zu­sam­men und ver­giss und sei glück­lich; wir wol­len uns von neu­em ein­rich­ten in den Rui­nen, mit kei­nem Wort und kei­nem Blick will ich dich je dar­an er­in­nern, dass wir in Rui­nen woh­nen! Und nun – rede du mir da­ge­gen, Fritz, und sage: ›Es hat kei­nen Sinn, was du sprichst, Ire­ne, du sprichst nur aus dei­nem kran­ken, ver­wirr­ten Ge­mü­te in den hel­len, ge­sun­den, lich­ten, stil­len Tag hin­ein, weil du in dei­ner Un­ru­he und Angst eine Stim­me – dei­ne Stim­me hö­ren möch­test‹.«

      Sie hat­te recht; es war recht schwer, ihr et­was zu er­wi­dern. Wäh­rend ich nach For­meln, Phra­sen such­te und für hun­dert­fäl­ti­ges Ja und Nein ein er­lö­sen­des Wort such­te, schritt ich wie­der mit Ewald Six­tus durch die Gän­ge, Stu­ben und Kam­mern von Schloss Wer­den, rüt­tel­te an ver­ros­te­ten Tür­grif­fen, drück­te mit dem Knie die ver­quol­le­nen, wi­der­spens­ti­gen Tü­ren auf und sah scheu auf die Fuß­tap­fen, die wir hin­ter uns zu­rück­lie­ßen in dem Stau­be, der den Bo­den be­deck­te.

      Er hat­te recht, der Freund: es war nicht das­sel­be, wenn er Schloss Wer­den ge­wann und Just Ever­stein den Stein­hof wie­der­ge­wann! Schla­fen­des Le­ben lässt sich wie­der auf­we­cken, aber To­tes lässt sich nicht le­ben­dig ma­chen; und Schloss Wer­den war tot, war tot auch für das Kind des Hau­ses und für den, der sein Herz­blut dar­um ge­ge­ben hät­te und sei­nen gan­zen Wil­len ge­ge­ben hat­te, das Rad zu­rück­zu­dre­hen und der Frau auf dem Stein­ho­fe zu sa­gen:

      »Komm und sieh, was ich für dich und mich habe tun kön­nen«…

      Das war nichts; aber in die­ser hei­ßen, blen­den­den Mit­tags­stun­de, nach dem letz­ten Wor­te Ire­nes zuck­te es mir eben durch Hirn und Herz: »Aber das ist ja auch nichts, und die Haupt­sa­che ist es ja ein­zig und al­lein, dass sie es wis­sen und es deut­lich sa­gen kön­nen, wie es ih­nen zu­mu­te ist. Al­les an­de­re be­deu­tet nichts, und die Nes­ter, die sie in die Zwei­ge der Nuss­bü­sche an der He­cke bau­ten, gel­ten eben­so­viel wie die Mau­ern von Schloss Wer­den. Auf schwan­ken­dem Ge­zwei­ge, zwi­schen Him­mel und Erde schau­keln wir alle; aber am meis­ten dann, wenn wir am tiefs­ten in die Erde gra­ben, um einen fes­ten Grund­stein für die Burg zu le­gen, in der wir mit un­se­rem Glück zu woh­nen wün­schen.«

      Ire­ne kämpf­te müh­sam mit ih­ren Trä­nen; mich aber über­kam all­ge­mach im­mer mehr die Ge­wiss­heit, dass hier doch noch nicht al­les aus und zu Ende sei; wie es aber sich zu­letzt schi­cken moch­te zwi­schen die­sen zwei stol­zen, wi­der­spens­ti­gen See­len, wer konn­te das sa­gen?!

      Wie aber schick­te es sich, dass die Ju­gend­freun­din ge­ra­de in die­sem Au­gen­blick mei­ne Hand fes­ter nahm und mir zu­flüs­ter­te:

      »Nicht wahr, Fritz, es ist doch auch gut so, wie sich das Ver­hält­nis zwi­schen dem Vet­ter Just und un­se­rer Eva ge­stal­tet hat?«

      »Ja!« sag­te ich, und ich sprach kei­ne Un­wahr­heit, wenn ich hin­zu­füg­te, dass ich mei­nes­teils voll­kom­men da­mit ein­ver­stan­den sei. Habe ich es nicht schon ge­sagt, dass ich der größ­te Ego­ist von al­len die­sen Men­schen­kin­dern ge­wor­den war und mir am meis­ten die Fä­hig­keit ge­won­nen hat­te, al­lein zu blei­ben und – dann und wann auf Ver­lan­gen ru­hig den an­de­ren ihre An­sicht zu be­stä­ti­gen oder gar so­ge­nann­ten gu­ten Rat zu ge­ben?…

      Vi­el­leicht hät­te ich aber doch nicht so klar und ge­las­sen be­ja­hend auf die­se zwi­schen Trä­nen her­vor­sprin­gen­de Fra­ge geant­wor­tet, wenn es nicht die Haupt­per­son in die­sen Le­bens­ge­schich­ten ge­we­sen wäre, wel­cher ge­gen­über ich mein Recht, nein zu sa­gen, auf­ge­ge­ben hat­te.

      Ihre Au­gen has­tig trock­nend, rief Ire­ne:

      »Da kommt der Vet­ter!« und wir wen­de­ten bei­de uns ihm rasch zu, bei­de froh, dass er die­ser kur­z­en, bit­te­ren, schmer­zens­rei­chen Un­ter­hal­tung auf dem schat­ten­lo­sen Feld­we­ge ein Ende mach­te.

      Er kam von sei­nem Ge­höft, von sei­nem in so ganz an­de­rer Wei­se als Schloss Wer­den wie­der­ge­won­ne­nen Erb­sitz auf die­ser Erde. Auch ihn sah ich jetzt zum ers­ten Mal in der hel­len Mit­tags­son­ne der Hei­mat, und sie än­der­te nichts dar­an, sie stell­te es nur in ein hel­le­res, freu­di­ge­res und so­zu­sa­gen ver­stän­di­ge­res Licht: in sei­nen ge­müts­ru­hi­gen, ge­sun­den Jah­ren pass­te und ge­hör­te er ganz und gar zu Eva Six­tus, und ich än­der­te nichts an dem Fak­tum!

      Es lag in je­dem sei­ner Schrit­te et­was wie eine Bürg­schaft für den fer­ne­ren gu­ten, stil­len, hilfs­wil­li­gen Le­bens­weg der bei­den Leu­te. Mit den bunt­far­bi­gen Fan­tas­ma­go­ri­en, mit den Schmer­zen und Trä­nen der Ju­gend hat­te die lä­cheln­de Son­ne, die auf sei­ner Stirn und sei­nem Haus­da­che lag, frei­lich schon längst nichts mehr zu schaf­fen; aber nichts­de­sto­we­ni­ger ist und bleibt sie et­was sehr Gu­tes und Wün­schens­wer­tes in die­ser Welt der Ver­wir­rung, des Ne­bels und des Land­re­gens.

      »Das ist gut, dass du we­nigs­tens da bist«, sag­te der Vet­ter Just Ever­stein.

      Dreizehntes Kapitel

      »Und das Qua­drat der Hy­po­te­nu­se ist im­mer noch so groß wie die Sum­me der Qua­dra­te


Скачать книгу