Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Dei­nen Ma­jor, Alte, und küs­se Dei­ne Kin­der in mei­nem Na­men; schrei­be mir je­doch un­ter kei­ner Be­din­gung, ich kann kei­nen Brief ge­brau­chen. Hörst Du, hörst Du, Emma, ich will kei­nen Brief ha­ben! Sei also gut und lieb wie im­mer und be­hal­te mor­gen Dei­ne Mei­nung für Dich. Da kräht der Hahn zum zwei­ten Mal, und gra­de­so kräh­te er zu Je­ru­sa­lem im Pal­ast­ho­fe des Ho­hen­pries­ters Kai­phas; ich zie­he die Bett­de­cke über den Kopf – einen Brief neh­me ich ganz ge­wiss nicht an!

      Ni­ko­la von Ein­stein«

      Der blö­de Hans, der Sim­pel des Guts­ho­fes und des On­kels Bums­dorf aus­er­wähl­ter Lieb­ling und Sün­den­bock, hum­pel­te in der hei­li­gen grau­en Frü­he rich­tig mit der Kor­re­spon­denz sei­ner Ge­bie­ter und Ge­bie­te­rin­nen gen Nip­pen­burg, und es be­kam im re­gel­rech­ten Ver­lauf der Stun­den der Dy­nast sei­ne Zei­tung und die Frau Ma­jo­rin Emma in der Haupt­stadt das wil­de, trä­nen­rei­che Schrei­ben Ni­ko­las, auf wel­ches sie nicht ant­wor­ten soll­te. Was sie also dar­über dach­te, in wel­cher Wei­se sie ih­ren Ma­jor an ih­rer Angst und ih­rem Zorn teil­neh­men ließ, bleibt uns da­her fürs ers­te ein Ge­heim­nis. Spä­ter wer­den wir schon er­fah­ren, wie nicht nur die Frau Emma, son­dern auch man­che an­de­re Leu­te sich zu die­sen An­ge­le­gen­hei­ten stell­ten; aber noch hält uns die Pro­vinz ein gan­zes Ka­pi­tel hin­durch, und wir ha­ben nicht die Ab­sicht, gleich dem Fräu­lein von Ein­stein die Au­gen zu­zu­knei­fen, die Zäh­ne auf­ein­an­der­zu­set­zen und uns kopf­über in den Strom zu stür­zen, ohne zu wis­sen, wo­hin die Wel­len uns tra­gen wer­den. Wir ge­hen lang­sam ins Was­ser, nach­dem wir uns vor­her sorg­sam ab­kühl­ten; wir hal­ten un­se­re Kräf­te zu­sam­men, denn wir ken­nen un­se­re Auf­ga­be und wis­sen, dass es leich­ter ist, sich trei­ben zu las­sen, als jene Stel­le am an­de­ren Ufer, nach der wir vor Be­ginn des Wa­g­nis­ses so sehn­süch­tig hin­blick­ten, tief at­mend, aber sieg­reich zu er­rin­gen, gar nicht zu ge­den­ken, dass wir den Kurs des Fräu­leins von Ein­stein wie al­ler an­de­ren fest da­bei im Auge be­hal­ten müs­sen.

      »So! Das ist grad­so­gut, als ob du zum zwei­ten Mal das Mond­ge­bir­ge zwi­schen dich und das süße Va­ter­land ge­scho­ben hät­test!« hat­te der Vet­ter Was­ser­tre­ter, den Rie­gel sei­ner Türe vor­schie­bend, zu dem Afri­ka­ner ge­spro­chen, und es war in der Tat so. Zum an­de­ren Male be­fand sich Leon­hard Ha­ge­bu­cher auf dem bes­ten Wege, um zu ei­nem My­thus für Nip­pen­burg und Bums­dorf zu wer­den: Dsche­bel al Kom­ri hat­te ihn wie­der­um in sei­ne Schat­ten auf­ge­nom­men, und nicht vie­le Leu­te konn­ten sa­gen, was aus ihm ge­wor­den war.

      Nip­pen­burg be­fand sich, seit je­ner ver­häng­nis­vol­len Ka­ta­stro­phe im Gol­de­nen Pfau, noch im­mer in ei­ner dump­fen Auf­ge­regt­heit. Selt­sa­me Gerüch­te über spä­te­re Vor­gän­ge im Hau­se des Steue­rin­spek­tors zu Bums­dorf durch­kreuz­ten ein­an­der, es bil­de­ten sich Par­tei­en und Grup­pen, wel­che die Er­eig­nis­se von sehr ver­schie­den­ar­ti­gen Stand­punk­ten aus be­trach­te­ten und be­spra­chen. Der On­kel Schnöd­ler, zu Bo­den ge­drückt durch die qual­vol­le Last sei­nes bö­sen Ge­wis­sens und die auf sei­nem sil­ber­haa­ri­gen Schei­tel im­mer mehr sich häu­fen­de all­ge­mei­ne Ver­ach­tung, wank­te durch die Gas­sen des Städt­chens und such­te, gleich an­de­ren, viel klü­gern Bur­schen und grö­ßern Phi­lo­so­phen, auf den Pflas­ter­stei­nen und in den Mie­nen der gu­ten Freun­de die ihm in so schnö­der Wei­se ab­han­den ge­kom­me­ne stu­pi­de Be­schau­lich­keit des Da­seins ver­geb­lich. Leon­hard Ha­ge­bu­cher war und blieb ver­schwun­den, und nur das Gerücht konn­te ihn dann und wann er­ha­schen. Man woll­te ihn in dunk­ler Nacht an den Häu­sern hin­schlei­chend er­tappt ha­ben; an ei­nem sehr ne­be­li­gen Mor­gen hat­te er aus dem Fens­ter des Vet­ters Was­ser­tre­ter ge­niest, und die Tan­te Kle­men­ti­ne Mau­ser, die ge­gen­über gute Wa­che hielt, woll­te »zur Ge­sund­heit!« ge­sagt ha­ben. Auf fer­nen Ber­gen und in den Wäl­dern der Um­ge­gend soll­te er häu­fig um­her­strei­fen, und dass er in Ge­sell­schaft des We­ge­bau­in­spek­tors die fürst­li­che Land­stra­ße nicht sel­ten un­si­cher ma­che, war durch nicht ganz un­glaub­wür­di­ger Zeu­gen Mund den Bür­gern und Bür­ge­rin­nen von Nip­pen­burg zur Ge­wiss­heit ge­macht wor­den. Wie er aber sei­ne Aus- und Ein­gän­ge be­werk­stel­lig­te, ohne von Hun­der­ten ge­se­hen und kom­men­tiert zu wer­den, blieb ein Rät­sel, er­schi­en je­der­mann als eine un­aus­sprech­lich heim­tücki­sche afri­ka­ni­sche Wüs­ten­pra­xis und zeug­te je­den­falls von ei­nem sehr ver­stoh­le­nen We­sen und ei­ner großen Kunst, »hin­ter den Leu­ten weg­zu­lau­fen«. Lau­fen wir eben­falls hin­ter den Leu­ten weg.

      Wie im­mer tropf­te mit lei­sem Klin­gen das Was­ser, wel­ches das fer­ne ge­schäf­ti­ge, brau­sen­de, sau­sen­de, pfei­fen­de und ras­seln­de Fa­brik­ge­trie­be für die Kat­zen­müh­le noch üb­rigließ, über das schwar­ze, nutz­lo­se Rad, und je­der rein­lich per­len­de Trop­fen war ein Flücht­ling, der nur mit Mühe sei­ne Rein­heit und Klar­heit vor den nütz­li­chen, aber schmut­zi­gen und er­bar­mungs­lo­sen Mäch­ten und Kräf­ten da dro­ben auf der Ho­chebe­ne ge­ret­tet hat­te. Die Be­woh­ne­rin der Müh­le, die Frau Klau­di­ne Feh­ley­sen, lag bleich und müde auf ih­ren Kis­sen und horch­te dem Trop­fen­fall, wie ein Kran­ker dem Ti­cken sei­ner Uhr horcht. Die Frau Klau­di­ne war ganz al­lein mit dem lei­sen Spiel des Was­sers; die Magd war ins Dorf ge­gan­gen, um Brot zu kau­fen, und der Spitz­hund vom Bums­dor­fer Guts­ho­fe hat­te tiefer im Wal­de auf ei­nem Spa­zier­gan­ge einen Igel ge­trof­fen und na­tür­lich fürs ers­te kei­ne Zeit, an die Müh­le, die Her­rin und sei­ne Pf­licht zu den­ken.

      Die Frau Klau­di­ne war so oft, so lan­ge und so durch ih­ren ei­ge­nen tiefs­ten Wil­len al­lein, dass sie ge­wöhn­lich kaum noch ein Be­wusst­sein ih­rer Ein­sam­keit be­saß; aber heu­te muss­te sie un­will­kür­lich wie­der ein­mal dar­über nach­sin­nen, und die­se Ge­dan­ken hät­te doch we­der die tap­fe­re, treue Chris­ti­ne noch der red­li­che, bie­de­re Spitz des On­kels Bums­dorf von ih­rer Sei­te fern­hal­ten kön­nen. Sie ka­men, wenn auch nicht ge­fürch­tet, so doch un­ge­be­ten zu Un­se­rer Lie­ben Frau von der Ge­duld, und sie ka­men wie in dem hel­len Son­nen­strahl die Son­nen­stäub­chen und tanz­ten ih­ren Tanz, gra­de weil der Tag schön und der Him­mel blau war, gra­de weil die Son­ne schi­en und es eine Sün­de ge­we­sen wäre, das Fens­ter zu schlie­ßen und die Vor­hän­ge zu­zu­zie­hen. An ei­nem stür­mi­schen Tage voll dun­kel trei­ben­den Re­gen­ge­wöl­kes hät­ten sie sich viel­leicht fern­ge­hal­ten und nicht ge­wagt, in den Be­zirk der Müh­le ein­zu­drin­gen; aber, wie ge­sagt, die Frau Klau­di­ne fürch­te­te sich zu kei­ner Zeit vor ih­nen, und zu je­der Zeit hat­ten sie frei­en Ein­tritt, wenn sie kom­men woll­ten.

      An­de­re Frau­en kön­nen in sol­chen Stun­den ge­hei­me Schub­fä­cher auf­schlie­ßen und mit ei­nem Schoß voll greif­ba­rer An­ge­den­ken nie­der­sit­zen zum wei­ner­li­chen oder hei­tern Ver­kehr mit der Ver­gan­gen­heit; die Frau Klau­di­ne hat­te bei ih­rer Flucht in die Wild­nis nichts von der­ar­ti­gen Zei­chen und Sym­bo­len glück­li­cher und un­glück­li­cher Au­gen­bli­cke oder Le­bens­epo­chen ge­ret­tet. Sie hat­te so­wohl das Stamm­buch ih­rer Mäd­chen­jah­re wie den Braut­kranz und die ers­ten Schu­he ih­res Kin­des ver­lo­ren; und hun­dert an­de­re Din­ge, wel­che sie gleich al­len an­de­ren Frau­en einst un­ter ih­ren teu­ers­ten Klein­odi­en


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