Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Es sei wun­der­bar, mein­te er, was al­les ge­sche­hen und von den Leu­ten ver­ges­sen wer­den kön­ne, wäh­rend ei­ner ab­we­send sei am Mond­ge­bir­ge; un­ge­mein freue er sich vor al­lem auch auf die Meis­ter­wer­ke der deut­schen Li­te­ra­tur, wel­che er bis zum Jah­re fünf­zig zu­rück nach­zu­le­sen habe und wel­che er, dem Vet­ter Was­ser­tre­ter, der sie schnö­de ver­leug­ne, zum Trotz, in den kom­men­den Win­ter­näch­ten mit Be­geis­te­rung stu­die­ren wer­de. Der Vet­ter Was­ser­tre­ter, mein­te er, orakle und kom­men­tie­re aber oft gar nicht übel aus sei­nem dich­ten Ta­baks­ge­wölk her­vor und so habe er – Leon­hard Ha­ge­bu­cher – eins zum an­de­ren ge­legt, sein Schul­bu­ben­fa­tum mit dem nö­ti­gen Schul­bu­ben­hu­mor auf sich ge­nom­men und sit­ze er ganz hei­ter nach. Von dem Va­ter­hau­se kön­ne er na­tür­lich das we­nigs­te Gute be­rich­ten und wis­se das Fräu­lein von Ein­stein durch die arme Schwes­ter Lina si­cher­lich mehr von den Stim­mun­gen und Vor­gän­gen dort als er, der ver­lo­re­ne, aus­ge­sto­ße­ne Sohn. Die Mut­ter tue ihm sehr leid und der alte ver­drieß­li­che Papa ei­gent­lich nicht we­ni­ger; denn der­sel­be sei in je­der Be­zie­hung in sei­nem Rech­te und habe so­wohl psy­cho­lo­gisch wie mo­ra­lisch höchst kor­rekt ge­han­delt. Im Gol­de­nen Pfau aber sit­ze der Vet­ter Was­ser­tre­ter als rä­chen­der Ge­ni­us der Fa­mi­lie Ha­ge­bu­cher, zei­ge sich sämt­li­chen Ho­no­ra­tio­ren von Nip­pen­burg mehr als dop­pelt ge­wach­sen und hof­fe nach Ver­lauf des Win­ters das ein­zi­ge nicht le­ber­kran­ke und nicht von Gal­len­stei­nen ge­plag­te Mit­glied der wür­di­gen Ge­sell­schaft zu sein.

      Die­ses und noch man­ches an­de­re er­zähl­te der Afri­ka­ner, da man es von ihm ver­langt hat­te; aber er sprach doch trau­ri­gen Mu­tes, und die bei­den Frau­en konn­ten ihm auch nicht mit frei­er See­le zu­hö­ren. Es wur­de wie­der Abend; der Spitz kam ohne den Igel aus dem Wal­de heim; aber Chris­ti­ne brach­te ih­ren Laib schwar­zen Bro­tes mit.

      »Gib mir noch da­von, Mut­ter, dann will ich ge­hen«, sag­te Ni­ko­la von Ein­stein.

      Mit zit­tern­der Hand schnitt die Grei­sin ein Stück ab und reich­te es stumm der Braut des Herrn von Glim­mern.

      »Ich will es mit mir neh­men in mein neu­es Le­ben«, sprach Ni­ko­la wei­ter, »und ich will in der rech­ten Stun­de im­mer da­von es­sen – es soll mir gut­tun, so hart es auch wer­den mag. O Mut­ter, Mut­ter, du hast mir so viel ge­ge­ben aus dei­nem rei­chen, sü­ßen Her­zen; aber dies ist nun das letz­te, was du mir ge­ben kannst. Ein Stück schwar­zen Bro­tes der ar­men Ni­ko­la auf den Weg, das ist das letz­te Zei­chen!«

      Sie knüpf­te das Brot in ihr Ta­schen­tuch und wen­de­te sich ge­gen Leon­hard:

      »Nun ge­hen Sie vor­auf, mein Freund; ich hole Sie doch ein auf dem Pro­spe­ro, um Ih­nen ein be­son­de­res Le­be­wohl sa­gen zu kön­nen. Aber jetzt muss ich noch einen Au­gen­blick al­lein sein mit mei­ner Mut­ter, um sie zum letz­ten­mal zu küs­sen.«

      Tief be­wegt und wort­los trat Leon­hard Ha­ge­bu­cher zu­rück und ver­ließ die Müh­le lang­sa­men Schrit­tes und ohne sich um­zu­se­hen. Im Wal­de nis­te­te sich die Däm­me­rung be­reits ein, und auf der Flie­gen­hau­se­ner Land­stra­ße trieb ein ers­tes küh­le­res Abend­lüft­chen Staub­wir­bel vor sich her. Er war­te­te ver­geb­lich am Aus­gang des Hol­zes auf die schö­ne Rei­te­rin; er stand oft still und blick­te auch im Wan­dern über die Schul­ter zu­rück; aber erst hin­ter dem Dor­fe ver­nahm er den Huf­schlag des Schim­mels hin­ter sich, und dann ritt Ni­ko­la von Ein­stein noch eine gan­ze Wei­le stumm ne­ben ihm her, und er wag­te kaum, zu ihr auf­zu­bli­cken.

      Sie auch nahm die Un­ter­hal­tung auf, in­dem sie sag­te:

      »Es war doch ein schö­ner Som­mer, Herr Ha­ge­bu­cher, und wenn wir ein­an­der wie­der be­geg­nen, so wer­den wir sei­ne gu­ten Ga­ben si­cher­lich rich­ti­ger zu schät­zen wis­sen, als wir es in die­ser däm­me­ri­gen Stun­de ver­mö­gen. Wir wer­den je­den­falls wie­der zu­sam­men­tref­fen, Ka­me­rad; dann grü­ßen wir uns nach ei­ner an­de­ren Welt Art und Sit­te und ha­ben wohl dar­auf zu ach­ten, wie wir’s trei­ben, dass das klu­ge Nar­ren­volk dort hin­ter den Ber­gen uns nicht un­ter die Füße be­kommt. Wir be­sit­zen aber bei­de das Bür­ger­recht in ei­nem Rei­che, von wel­chem je­nes Volk nichts weiß, und kei­ne Macht soll uns es ent­rei­ßen. Jetzt wol­len wir uns die Hän­de drücken und kurz Ab­schied neh­men; mit Re­dens­ar­ten ist kei­nem von uns ge­dient. Wenn Sie Ihre Waf­fen ge­schmie­det ha­ben, so las­sen Sie dort in der Kat­zen­müh­le von der al­ten Frau den Se­gen dar­über spre­chen, und dann mö­gen Sie mir nach­fol­gen. Le­ben Sie wohl, Leon­hard Ha­ge­bu­cher!«

      »Le­ben Sie wohl, Fräu­lein von Ein­stein!« sag­te der Mann vom Mond­ge­bir­ge. Ni­ko­la ritt talab wei­ter auf der Land­stra­ße, Leon­hard aber folg­te wie­der je­nem uns schon be­kann­ten Feld­we­ge, um­schritt das Dorf Bums­dorf in ei­nem Bo­gen und er­reich­te wie ge­wöhn­lich in dunk­ler Nacht das Quar­tier des Vet­ters Was­ser­tre­ter.

      Da uns in frü­he­ren, dunk­le­ren Jahr­hun­der­ten lei­der schon viel deut­sche Ge­schich­te da­durch ver­zet­telt wur­de, dass je­der Mönch, der sich in die­ser Wei­se schrift­stel­le­risch be­schäf­tig­te, nur die His­to­rie sei­nes ei­ge­nen Klos­ters für die Ewig­keit nie­der­schrieb, so wol­len wir an die­ser Stel­le nicht die Ge­schich­te der Stadt Han­no­ver, Braun­schweig, Darm­stadt, Kas­sel, Stutt­gart und so ei­ni­ge drei­ßig Mal und so wei­ter schrei­ben. Wir kön­nen un­se­re mit­tel- und klein­staat­li­che Herr­lich­keit an den Fin­gern her­zäh­len, aber, in echt ger­ma­ni­scher Scham­haf­tig­keit, ohne einen Na­men zu nen­nen; der Plun­der bleibt eben über­all der­sel­be und die Lie­be und Ver­eh­rung zum an­ge­stamm­ten Fürs­ten­hau­se so­wie die An­häng­lich­keit an sons­ti­ge alt­ge­wohn­te, be­hag­li­che oder un­be­hag­li­che Über­komm­nis­se und Ein­rich­tun­gen gleich­falls.

      Solch eine deut­sche Kul­tur­stät­te, von ei­nem im gan­zen ziem­lich un­be­deu­ten­den Bruch­teil der Na­ti­on sei­ne Re­si­denz ge­nannt, liegt ent­we­der in ei­nem Tal oder in ei­ner Ebe­ne und nie auf ei­nem Ber­ge, hat je­doch stets in ih­rer Um­ge­bung eine na­tür­li­che oder künst­li­che Er­hö­hung des Bo­dens, von wel­cher aus man ei­nes um­fas­sen­den Blickes über die Pracht ge­nießt und auf wel­che die Leu­te des Or­tes und der Ge­le­gen­heit sehr gern ihre Gäs­te füh­ren, um sich an ih­rem Er­stau­nen und Ent­zücken mit be­schei­de­nem Stolz zu wei­den.

      Solch eine deut­sche Re­si­denz hat im­mer die Ähn­lich­keit mit der Stadt Rom, dass sie wie die­se nicht an ei­nem Tage er­baut wor­den ist. Ihr Al­ter ist häu­fig ganz be­deu­tend, ein Um­stand, auf den man sich ge­mei­nig­lich auch et­was zu­gu­te tut, wel­cher aber je­den­falls nicht im­mer sei­nen letz­ten Grund in der Über­schweng­lich­keit der land­schaft­li­chen Rei­ze fin­det.

      Dich­ter Ne­bel, Sumpf und Ur­wald be­deck­ten vor zwei­tau­send Jah­ren die Stel­le, auf wel­cher heu­te die Ge­sit­tung und Bil­dung ihre schöns­ten Blü­ten trei­ben. Wo heu­te vor dem Ho­tel de St. Péters­bourg der Po­li­zei­mann die öf­fent­li­che Moral im Auge be­hält, da lau­er­te einst der wil­de Ur­ger­ma­ne auf den zot­ti­gen Bär; wo heu­te Staats­rä­te und Ge­ne­ral­ma­jo­re, Prä­si­den­ten des Ober­tri­bu­nals und Kon­sis­to­ri­ums, Di­rek­to­ren, Mi­nis­te­ri­al-, Ober­kriegs- und


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