Aus tiefem Schacht. Fedor von Zobeltitz
sich auf den Zehen empor.
„Also paßt auf,“ sagte Herr Feilner. „Nämlich zuerst kommt, was die Quelle alles enthält. Hauptbestandteile: kieselsaurer Kalk, schwefelsaurer Kalk, Chlornatrium, Chlorkalium, Ferrokarbonat, schwefelsaure Magnesia.“
Er schaute auf und begegnete auf allen Seiten mordsdummen Gesichtern. Der alte Maracke schüttelte vor sprachlosem Erstaunen den Kopf und Braumüller fragte:
„Wat denn? Das ist alles drin?“
„Es kommt noch mehr,“ sagte Feilner, und Albert Möller rief „Ruhe“, obschon niemand sprach, und drängte den dicken Braumüller unsanft vom Tische zurück.
Der Kantor nahm wieder den Brief zur Hand und las weiter:
„Temperatur 8,07 Grad R. R. heißt nämlich Réaumur, womit das Wasser gemessen worden ist, und weil’s auch noch andre Thermometer gibt, zum Beispiel Celsius, der mißt höher, und Fahrenheit, den braucht man aber nur manchmal. Nun geht’s weiter. Geschmack leicht bitter, kristallhell, dem Rakoczy ähnlich, aber an Bestandteilen quantitativ geringer. Habt ihr verstanden?“
Den Mienen der Anwesenden sah man dies nicht an. Maracke schüttelte noch immer den Kopf und kratzte sich dabei hinter den Ohren. Braumüller wollte etwas fragen, aber der wißbegierige kleine Raupach kam ihm zuvor und schrie aufgeregt:
„Kinder, nu denkt mal, und das haben wir alles gar nicht gewußt? Dem Ra—, dem Ra—, wie war’s denn gleich? Wem soll das Wasser ähnlich sein?“
„Dem Rakoczy,“ erwiderte Bertold Möller, „das ist ’ne Quelle in Kissingen – auch eine Heilquelle ...“
„Und was ist denn nun so gesund da dran?“ fiel Langheinrich ein.
„Wartet mal,“ sagte der Kantor, „davon hat Professor Statius auch etwas geschrieben.“ Und er suchte in seinem Briefe. „Aha – da – hier steht’s: ‚Beschleunigung des Stoffwechsels, Ausscheidung anormaler Stoffe, gesteigerte Oxydation.‘“
Er schwieg wieder und steckte den Brief in die Tasche zurück.
„Was hat er gesagt?“ fragte Maracke, der noch immer sein Ohr umgeklappt hielt. Sein Nachbar zuckte mit den Achseln, doch der kleine Raupach schrie lebhaft:
„Stoffwechsel hat er gesagt! Das ist doch ganz einfach!“ – und Maracke nickte dankend und war so klug wie zuvor.
Der Kantor nippte an seinem Bier und erhob sich; er wollte wieder gehen. Aber zuvor faßte er den alten Möller noch einmal an einem Rockknopf.
„Hören Sie mal, Herr Möller,“ sagte er, „was da der Herr Professor noch geschrieben hat: er läßt Ihnen raten, Sie möchten doch die Quelle fassen lassen.“
„Schön, schön, Herr Kantor,“ erwiderte Albert anstatt des Alten rasch, „wird alles gemacht werden,“ – und leise flüsterte er seinem Vater zu: „Ich weiß schon Bescheid – nachher! ...“
Als der Kantor gegangen war, kehrte alles auf die verlassenen Plätze zurück. Man bestellte sich neues Bier und neuen Schnaps. Der Heilquell an der Grauen Lehne bildete das einzige Thema der Unterhaltung. Allerhand Meinungen wurden ausgetauscht. Man war sich noch nicht recht klar über das neue Wunder. Raupach geriet mit Braumüller in Streit, weil ersterer behauptete, die heilende Wirkung des Wassers liege im Trinken, und letzterer, nein, im Baden. Schließlich schlichtete „Schlippermilch“ den Zank durch die salomonische Erklärung, es sei beides richtig; erst baden, dann trinken, worauf Maracke meinte, das sei eine Schweinerei.
Der alte Möller hatte seine Frau gerufen, damit sie die Gäste bediene. Dörthe sollte ihr dabei helfen, denn die vier Möllers zogen sich zu einer „Familienrücksprache“, wie Albert sagte, in das Extrazimmer zurück. Der Förster Damke war nach Hause gegangen, aber das ganze Stübchen roch noch nach dem schlechten Grog, den er getrunken hatte. Albert öffnete einen Fensterflügel. Draußen rauschte mit leisem, einförmigem Murmeln die Barbe vorüber. Der Himmel war ausgesternt: es gab gutes Erntewetter.
Die drei Brüder hatten sich an den mit Wachstuch überzogenen Tisch gesetzt, der mit klebrigen Flecken übersät war, und auf dem ein flacher Teller mit gezuckertem Spiritus und Fliegengiftpapier stand.
„Wollt ihr Bier, Jungens?“ fragte der Alte.
„Danke,“ erwiderte Bertold, und Albert schüttelte naserümpfend den Kopf. Er war verwöhnt. Das Lemminger Bier war nicht zu trinken. Aber es würde ja alles anders kommen.
„Nun hört einmal zu,“ sagte er. „Setz dich, Vater, ich kann das zwecklose Herumstehen nicht leiden. Die Tatsache, daß wir in dem Wasser an der Grauen Lehne einen Heilquell besitzen, ist erwiesen. Ich will euch gestehen, daß ich extra deswegen zu einem berühmten Arzte in Berlin gefahren bin. Ich wollte mir Gewißheit schaffen. Der hat das Wasser ebenfalls genau analysiert und stimmt in allem mit Professor Statius überein. Er sagte mir, das sei etwas sehr Wichtiges, daß wir in der Mark so ’ne Art Kissinger hätten; das fehlte uns, und Oberlemmingen würde eine große Zukunft haben.“
„Also wahr und wahrhaftig?“ fragte der Alte, seine Pfeife aus dem Munde nehmend. Er brachte der Sache noch immer ein gewisses Mißtrauen entgegen. Bertold stieß ihn leicht von der Seite an; Albert sollte erst aussprechen. Nachher konnte man fragen.
Aber Albert sprach nicht gleich weiter. Er zündete sich zunächst eine Zigarre an, während die andern ihn aufmerksam betrachteten. Er war der Klügste in der Familie und hatte als Großstädter seine Verbindungen. Endlich hub er etwas zögernd und mit schwerer Stimme wieder an:
„Erst wollen wir uns mal über das Eigentumsrecht einigen, Kinder,“ sagte er, und sofort fiel Bertold ein:
„So ist’s! Man muß doch wissen, woran man ist. Eher rühr’ ich auch nicht ’nen Finger in der Sache!“
Fritz wühlte mit beiden Händen in seinem Flachshaar. Er hatte genau gewußt, daß das so kommen würde. Aber er mußte sich fügen; ohne Albert war nichts anzufangen.
„Vater hat ja doch schon geteilt,“ entgegnete er. „Und alles gerichtlich und schwarz auf weiß. Ihr habt bar Geld gekriegt und ich die Krugwirtschaft. Das ist doch längst in Ordnung.“
„Es handelt sich um die Quelle,“ bemerkte Albert ernst, „das ist ein neues Objekt ...“
„Aber die Quelle liegt auf meinem Grund und Boden, dagegen ist nichts zu sagen,“ antwortete Fritz. Er wollte wenigstens versuchen, die Position zu verteidigen.
„Schön,“ erwiderte Albert und erhob sich. „Bist du der Meinung, so geh’ ich. Dann kümmre ich mich nicht weiter darum. Nehmt euch ’ne andre Beihilfe.“
Der Alte hielt ihn am Rockschoß fest.
„Hier bleiben!“ befahl er. Er sprach in grollendem Tone. Wenn er gereizt war, schob er die Oberlippe ein wenig empor und zeigte die breiten, gelben Zähne. Dann wurde sein von kurzen, grauen Stoppeln umrahmtes Gesicht böse, und das Auge begann zu funkeln.
Er nahm, während Albert achselzuckend am Tische stehen blieb, noch ein paar Züge aus seiner Pfeife und fuhr sodann in kurzen, knurrend hervorgestoßenen Sätzen fort:
„Es ist klar, daß die Quelle uns allen gehört. Nicht bloß einem. Freilich, die Graue Lehne gehört zur Krugwirtschaft. Aber der Quell hat sich jetzt erst gefunden. Und ich habe bei der Verteilung besonders ausmachen lassen, daß bei neuen Funden im Boden der Wirtschaft, sei’s Mergel, seien’s Kohlen oder sei’s Alaun, gedrittelt werden soll. So ist’s auch gerecht!“
Albert und Bertold nickten, und Fritz verzog den Mund. Richtig war’s; man hatte diese Bestimmung getroffen, vor allem in Rücksicht auf den Alaun, den man in letzter Zeit vielfach in der Gegend entdeckt, allerdings ziemlich unrein, so daß sich eine Förderung bisher nicht gelohnt hatte.
„Ich will nicht streiten,“ entgegnete Fritz schließlich; er wie die andern hatten einen gewaltigen Respekt vor dem Vater, der die erwachsenen Männer zuweilen noch wie Schulbuben behandelte.