Herzmanovskys kleiner Bruder. Egyd Gstattner
mich auch nicht aus. Wenn ich eingangs schon so kokett von meinen Niederlagen und Debakeln gesprochen habe, hätte ich auch ganz anders beginnen und von meiner Pörtschacher Mitschülerin Renate erzählen können, die vor allem am Schulball in ihrem langen blauen Abendkleid mit den dezenten goldenen Sternen und dem dezenten Schlitz an der Seite so elegant und grazil und verführerisch wie die Prinzessin Tausendschön ausgesehen hat. Ich war sechzehn und so verliebt und so fit, daß ich sie einmal sogar mit dem Fahrrad bei ihr zu Hause in Pörtschach besucht habe – hin und retour immerhin eine Strecke von dreißig Kilometern. Ihre Eltern waren nicht daheim, und ich wollte eigentlich mit ihr ins Bett, aber Renate war gerade dabei, dem damaligen Bundespräsidenten Kirchschläger einen Brief zu schreiben und ihn im Namen aller jungen Menschen um ein Zeichen moralischer Erneuerung zu bitten. Mir war das gar nicht recht. Den halben Nachmittag habe ich dazu verwendet, Renate zu erklären, daß es völlig absurd, sinnlos und aussichtslos ist, wenn eine Mittelschülerin aus Pörtschach dem Bundespräsidenten einen Brief bezüglich moralischer Erneuerung schreibt. Die zweite Hälfte des Nachmittags verwendete Renate dazu, mir zu erklären, daß es völlig absurd, sinnlos und aussichtslos ist, wenn ein verschwitzter Mittelschüler mit Fahrrad mit ihr ins Bett will. Quod licet Iovi ...; in solchen Fällen, wenn wieder einmal eine ungeniert Eintritt verlangt in die Galerie meiner Unerreichten, ist es tröstlich, wenn man eine bedeutende Fußballmannschaft hat, die einen den privaten Schmerz vergessen läßt und die eigene Erfolglosigkeit kaschiert. Die Lage der Nation und Sportnation war damals aber auch nicht gar so erbaulich, glaub’ ich, eine schiefe Ebene, ein Gefälle. Detto die des Kontinents. Naja, die Lage der Nation, das sind immer so Themen, wenn gerade keine die Schenkel spreizt.
Unlängst habe ich Renate nach zwanzig Jahren beim Kartoffelkaufen im Eurospar wiedergetroffen. Sie ist aber nur auf Heimaturlaub hiergewesen: Die kleine Renate lebt seit Jahren in Brüssel, ist Leiterin des Kärntner EU-Verbindungsbüros in der Avenue de Corthenberg und vertritt die Kärntner Interessen in Europa: Hauptsächlich Tourismus, Olympische Spiele, solche Sachen. Jetzt ist sie gerade mit der Organisation der erwähnten Pörtschacher Sondergipfelschiffsprozession für Kommissare beschäftigt. Thematisch geht’s diesmal übrigens um Bürgernähe, und die idyllische Halbinsel, auf der die europäischen Regierungschefs tagen, ist hermetisch abgeriegelt, damit die Bürger der Bürgernähe nicht im Weg stehen. Das ist doch der Gipfel! Aber die Pörtschacher freuen sich. Bettenauslastung. Betten. So waren wir schnell wieder bei unseren Lieblingsthemen Sinnlosigkeit und Aussichtslosigkeit. Non licet bovi. Die Welt ist klein, Europa groß, wir sind meiner Schätzung nach beide bereits in der zweiten Halbzeit unseres Lebens, unsere damaligen Ideale haben wir in der ersten Hälfte zurückgelassen, ich meines jedenfalls.
Einmal ehrlich: Prinzipiell bin ich natürlich für den Europäischen Einigungsprozeß, schon um den größenwahnsinnigen Zollbeamten und Grenzpolizisten eines auszuwischen und um all die sinnlosen Kriege zu verunmöglichen. Schweden gegen Portugal. Frankreich gegen Finnland. England gegen San Marino. Österreich gegen Athos: All die sinnlosen Greueltaten! Aber à la longue hören dann freilich auch die homöopathischen Schlachten des kleinen Mannes auf, und man kann doch nicht sein ganzes Leben strategisch der Regionalliga widmen. Wenn sich einmal alle fünf Kontinente und die beiden Pole lückenlos geeint haben werden, kann man nicht einmal mehr ein reguläres Viertelfinale spielen, und das wäre doch eher unwirtschaftlich.
Prinzipiell bin ich dem Humanismus und dem Pazifismus verpflichtet: Sehe ich irgendwo am Wegesrand einen sanften Flügel oder einen Götterfunken liegen, hebe ich ihn auf, nehme ihn mit nach Hause und pflege ihn gesund. Ich bin für die Brüderschaft aller Menschen und gegen die Gewaltverbrechen innerhalb der Familie. Aber leider ist eben gerade die Familie besonders gewaltverbrechensfreudig, und auch das Wort fraternité hat viel Blut fließen lassen. Wenn es weniger Brüder gäbe, gäbe es auch weniger Mörder. Und gerade die Prestigeerfolge gegen Athos waren doch immer ganz brauchbar für das Selbstvertrauen in der Vorbereitungsphase für höhere Aufgaben. Vielleicht sollte man ja wirklich auch gegen Nationalismus in Nationalmannschaften sein, und wenn der Vorstopper von Kamerun unbedingt Drachengschwandtner heißen muß, soll er halt. Uns ist doch in unserer gesamten Geschichte immer alles wurst gewesen. Aber zwischendurch haben wir im Lauf der Geschichte gerade nach den Athostriumphen doch immer wieder sagen können: Wir sind wieder wer. Wortkundlich darf ich dazu anmerken, daß Regionalist mondäner klingt als Provinzler, und wer Deutschlandsberg nicht ehrt, ist Deutschland nicht wert. Überhaupt: Das Wir, das bis hinauf nach Uppsala und hinunter bis nach Piräus reicht, ist schon eine ziemlich wacklige Angelegenheit. Viele von uns finden sich in diesem Wir nicht mehr wieder und nicht zurecht, in diesem leichenblassen, saftlosen Wir ohne Zigarettenschmuggelgelegenheit. Wer sind wir denn jetzt eigentlich noch? Wir sind Europa! Ah, so!
Politisch bin ich vielleicht ein Trottel, aber was da passiert sein muß, stelle ich mir ungefähr so vor: Links war Amerika, rechts Rußland. Rußland war links, Amerika rechts. Da ist Europa in seiner Sandwichsituation eines Tages mulmig geworden. Europa hat Angst bekommen, wollte sich einen, und daher deklamierte es: Hochleistungseuropäer aller Länder, vereinigt euch! Wirtschaftskonzerne, Industriebosse, Militärs, Macher, Mächtige und Gewinner aller Länder, vereinigt euch! Die Hochleistungseuropäer, Mächtigen und Gewinner aller Länder dachten: Großartige Idee, wunderbar! Machtzunahme, Marktanteile, Wettbewerb, Gewinnmaximierung! Offensivdrang! Lust! Und wie ein brünstiger Stier packten sie Europa an den Lenden und machten sich an dem blauen Kleid mit den goldenen Sternen und dem Schlitz zu schaffen. Europa wandte sich um und sagte mit zitternder Stimme: Ich hab’ das aber noch nie gemacht! Wird es wehtun? Und der Stier grunzte: Nur anfangs, nur in der Übergangsphase! Europa beugt sich nach vor und stöhnt der Vollständigkeit halber auch noch: Arbeitslose, Aussichtslose, Ausrangierte, Desperate, Sieche, Moribunde, Bettler, Obdachlose, Outcasts, Underdogs, Wegrationalisierte, Paralysierte, Unbrauchbare, Machtlose und Verlierer aller Länder, vereinigt euch! Und die Machtlosen und Verlierer aller Länder, all die Breitensportler, denen beim ersten Atemzug die Luft wegbleibt, dachten: Scheiß drauf! Aber sie dachten es in einem solchen Sprachenkauderwelsch und so leise, daß niemand sie hörte, und Europa hatte sich auch bereits gebeugt.
Vom vielen Beugen kann man im Rahmen der Fitneß und des Kalorienverlusts allerdings auch Bänderzerrungen, Gelenksergüsse, Schleimbeutelentzündungen, Meniskusschäden bekommen: Da drohen Europa Bettruhe, Gips und Muskelschwund, die im Extremfall zurück zu Übergewicht, Herzverfettung, Gefäßverengung, Lungenentzündung, Nierenversagen und zum Exitus führen könnten. Exitus, auch so ein höfliches Wort. Special. Und dann? Europa bestatten? Aber wo? Europa würde vermutlich eine Lücke hinterlassen, die nicht so leicht zu schließen ist.
Damit es nicht so weit kommt, wurden also in allen Ländern Parlamentarier bestimmt. Die setzten sich zusammen und beratschlagten, wie Europa wirklich sinnvoll zu einen und fitzubekommen sei: Als erstes brauchen wir eine gemeinsame Außengrenze, einheitliche Reisepässe, ein einheitliches Heer, eine einheitliche Flagge, eine einheitliche Währung und auf allen Autobahnen einheitliche weiße Mittelstreifen. Gut. Fangen wir einmal mit den Mittelstreifen an. Und wir brauchen vor allem eine europäische Hauptstadt, sagt einer. Ja, richtig! Was wäre mit Berlin? Um Himmels willen, nein, das geht nicht. Zu historisch! Zu belastet! Oder Stockholm? Zu nördlich! Lissabon? Zu westlich! Athen? Zu südlich! Wien? Zu mittel! Dann eben London, Rom, Paris! Nein, nein, so geht das nicht. Auch die USA haben nicht New York, Los Angeles oder San Francisco genommen. Wir brauchen eine ganz öde, ganz ausdruckslose, ganz nichtssagende, ganz langweilige Hauptstadt! Nehmen wird doch Brüssel, ruft einer, und sofort sind alle einverstanden. Ja, Brüssel, rufen alle, Brüssel ist super, das Bubenlulustädtchen, jubeln sie und schlagen sich vor Lachen auf die Schenkel. Und einen Präsidenten bräuchten wir auch noch. Da nehmen wir am besten so einen Rudolf-von-Habsburg-Typen. Klein muß er sein, unbedeutend, mausgrau, knochentrocken, Brillenträger, und Jacques muß er heißen. Da finden wir schon wen. Und wie nennen wir die neue Währung? Was, Euro? Nicht sehr einfallsreich. Die Deutschen haben ja auch keine Deutschis gehabt, die Russen keine Russis, die Japaner keine Japsis, die Amerikaner keine Amis. Aber die Franzosen haben ihren Franzi! Na, dann. Man muß eben Kompromisse schließen können. Die Europäer nennen ihr Geld nach sich selbst. Euro non olet. Ach übrigens, und die Groschen? Euro Cent. Hat das nicht schon irgendwer? Was wäre mit einer Sprache? Was denn? Belgisch? Belgisch gibt’s ja gar nicht. Nein, nein, eine Sprache können wir Europa nicht