Lux und Umbra 2. Silke M. Meyer

Lux und Umbra 2 - Silke M. Meyer


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Sephora wollte aufstehen, doch Mathis hielt sie am Ärmel fest. „Nein. Du erzählst mir jetzt alles!“

      Benedicta wurde immer kleiner auf ihrem Stuhl. Mit aufgerissenen Augen sah sie Mathis Grenzen überschreiten und Sephoras Autorität infrage stellen.

      Sephora kam seufzend wieder zum Sitzen, fasste Mathis an den Oberarmen und redete weiter: „Nachdem die Möglichkeiten der Perlen offenbar wurden, plante Nalar einen neuen, geschickten Feldzug. Er versteckte seinen damals 10-jährigen Sohn und sorgte dafür, dass ihn niemand mehr zu Gesicht bekam. Meine Nichte lebte in der Folgezeit mit ihrem Mann in der neuen Welt und sie erzogen Sage. Sehr lange glücklich und in Frieden. Als Sage jedoch älter wurde, häuften sich eigenartige Begegnungen. Seine Eltern warnten ihn, doch in seinem jugendlichen Leichtsinn hörte er nicht auf sie. Als er das Alter von knapp 30 Jahren erreichte, setzte Nalar seinen Plan um und machte Sage zu einem der letzten geschaffenen Vampire. Nicht mit einem Biss, sondern mit dunkler Magie. Das schuf eine Bindung zwischen dem Vampir und seinem Erschaffer. Sage hatte keine Wahl. Er musste den Befehlen seines Vaters, wie er ihn künftig ebenfalls als Konsequenz der Erschaffung nennen sollte, folgen und gehorchen. Soweit ich weiß, ist er inzwischen der letzte existierende Vampir. Sage lehnte es ab, Menschen zu verwandeln. Und dadurch, dass er mittels Magie geschaffen wurde, konnte man ihm so leicht auch nichts anhaben. Nalar schickte falsche Prinzen des Lichts auf unsere Seite, spürte alle meine Nachkommen auf, in denen meine Magie lebendig war, und Sage wurde gezwungen, sie in alte Welt zu holen. Eine nach der anderen ließ Nalar den gefälschten Prinzen schützen, versuchte so, die Prophezeiung zu umgehen, aber alle versagten und wurden dadurch an unsere Welt gebunden. Benedicta war eine der Ersten von ihnen.“

      Mathis schaute zu seiner Freundin, die leise zu weinen begonnen hatte. Doch er war nicht fähig, sie zu trösten. Er spürte, dass Sephora noch immer ein Geheimnis vor ihm hatte. „Red weiter!“, forderte er sie ein weiteres Mal auf.

      „Mason hatte unsere Welt nie verlassen, die neue Welt nie gesehen. Er alterte hier langsamer. Während sein Halbbruder vor Jahrhunderten als knapp Dreißigjähriger erstarrte, war Mason im scheinbaren Alter von sechszehn oder siebzehn Jahren, als Nalar endlich ihn als Lichtprinz auf unsere Seite schmuggelte. Der Namenlose musste Charlotte längst entdeckt haben und beobachtete sie. Mason tauchte regelmäßig im See der Träume. Er hielt sich zurück, bis er den offenen Geist deiner Mutter traf. Sie war damals erst fünfzehn Jahre. Er erzählte seinem Vater davon und beschrieb sie in allen Einzelheiten. Nalar gab ihm die Erlaubnis in die neue Welt zu wechseln. Mason umgarnte deine Mutter und das Ergebnis bist ...“ Sephora stockte. Doch Mathis hatte längst begriffen.

      „Mason ist mein Vater?!“, stellte er flüsternd eher fest, als das er fragte.

      „Ja.“

      „Aber“, er konnte seine Tränen nun nicht mehr zurückhalten. „Aber meine Mutter und meine Oma sagten mir immer, sie wüssten nicht, wer mein Vater sei.“

      „Ich vermute, das taten sie wirklich nicht.“

      „Meine Mutter hätte doch den Mann wiedererkannt, den sie geliebt hat!“ Entrüstung zeigte sich auf seinem Gesicht.

      „Ich vermute ...“, Sephora wollte erneut nach ihm greifen, bevor sie weitersprach, doch Mathis hatte sich schon umgedreht und rannte zornig zur Tür. „Mathis!“, riefen die beiden Frauen im Chor, um ihn zum Anhalten zu bewegen. Umsonst, er wollte nichts mehr hören. Tränen der hilflosen Wut rannen über sein Gesicht. Er riss die schwere Tür mit Schwung auf, schrie „Du lügst!“ in den Raum und schwang sie mit Kraft hinter sich zu. Die kleine leuchtende Kugel, die auf dem Weg zu ihm war, prallte gegen das Türblatt und taumelte benommen nach unten.

      *7*

      Erzähle mir die Vergangenheit

      und ich werde die Zukunft erkennen.

      Konfuzius

      Sage starrte auf den Fetzen nächtlichen Himmel, den er durch das kleine Fenster des Gästezimmers sah. Er lauschte Carlys rasselndem Atem. Ihr Herz schlug schwach, aber gleichmäßig.

      Im Haus war es still. Seine Gastgeber schliefen. Sage brauchte dringend Nahrung. Er stand auf und schlich sich leise aus der Haustür heraus. Mit hoher Geschwindigkeit raste er den Berg hinab und traf auf einen Bauern, der sein Vieh auf der Weide versorgen wollte. Der Mann hatte keine Chance, sich zu wehren oder einen Hilfeschrei auszustoßen. Sage bemächtigte sich seines Bluts sehr schnell und wenige Sekunden später hing der Körper regungslos in seinen Armen. Sage konnte kein Risiko eingehen und nahm dem Bauern deshalb das Leben. Diese Mahlzeit würde ihm für eine lange Zeit reichen. Um seine Tat zu verschleiern, riss er dem Burschen die Kehle auf und zerfetzte seinen Körper derart, dass es aussah, als hätte ein wildes Tier ihn gerissen. Um all das glaubhafter zu gestalten, richtete er außerdem zwei der Schafe auf dieselbe Art und Weise zu. Trotzdem er sich vorsah, spritze einiges an Blut auf seine Kleidung. Aber das würde niemanden auffallen, sie war ohnehin von Carlys Blut durchtränkt. Danach sauste er den Berg wieder hinauf und stahl sich ebenso leise, wie er gegangen war, in das Haus hinein. Noch immer war es still und niemand schien bemerkt zu haben, dass er weg war.

      Schon am Treppenabsatz konnte er hören, dass Carlys Herz unruhiger schlug. Es hatte Aussetzer, wurde stetig schwächer. „Nein, nein, nein!“, flüsterte Sage gehetzt und rannte mit großen Sätzen die Treppe hinauf, riss die Tür zu ihrem Zimmer auf und sah sie - bleich und mit einem sich kaum noch hebenden Brustkorb. Sage griff nach Carlys Hand. Verzweiflung machte seine Stimme brüchig: „Du darfst jetzt nicht sterben. Kämpfe! Bitte geh nicht fort von mir!“

      Carlys Herzschlag beschleunigte sich ein letztes Mal, bäumte sich auf und dann verstummte er. Ihr Kopf fiel zur Seite und der Körper erschlaffte.

      „Nein!“ Ein Schluchzen klang von der Tür zu ihm durch. Marietta stand im Rahmen und hatte die Hände vor den Mund geschlagen. Sie musste Sage gehört haben, doch nun stiegen Tränen in ihre Augen.

      Sage war nicht bereit aufzugeben. Vorsichtig, um ihr nicht noch mehr Verletzungen zuzufügen, begann er auf Carlys Brustkorb herumzudrücken. „… siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig“, zählte er leise und beugte sich dann über Carlys Mund. Zweimal blies er ihr Luft in die Lungen, vorsichtig, damit er sie nicht zum Platzen brachte. Dann begann er von vorn, seinen Handballen in Carlys Oberkörper zu drücken. „Eins, zwei, drei…“ Die Zeit erschien ihm endlos, Marietta weinte still vor sich hin und Carly lag noch immer reglos auf dem Bett. Sage blies ihr erneut Luft in den Körper und begann von vorn. Nochmal. Und nochmal.

      Marietta trat zu ihm, legte ihm die Hand auf den Rücken. „Sie ist tot, mein Herr. Was tut Ihr da? Ihr könnt sie nicht zurückholen!“

      *

      Enndlin verließ ihre Baumhütte und bewegte sich geschickt zwischen den Ästen hin und her, bis sie an der alten, verästelten Korkeiche ankam, auf der Kwne wohnte. Knarrend öffnete sich die Tür. Kwne saß auf einem kleinen Hocker und flocht einen Korb. Als Enndlin den Raum betrat, legte sie ihre Handarbeit zur Seite und wollte aufspringen.

      „Lass nur, Kwne. Bleib sitzen. Ich muss mit dir reden.“

      Kwne nickte ergeben und sah erwartungsvoll zu ihrer Anführerin auf, die sich einen Stuhl heranzog. „Sie ist krank. Sehr krank, und im Moment ist nicht sicher, ob sie es überleben wird. Können wir ihr denn gar nicht helfen?“

      Enndlin war die Oberste ihres Volkes, doch Kwne die wohl älteste lebende Frau unter ihnen. Wenn jemand Rat wusste, dann sie. Niemand kannte Kwnes genaues Alter, doch jedem war geläufig, dass sie es war, die im Mittelalter die Gruppe jener Schwestern führte, die sich entschlossen hatte, von der alten in die neue Welt umzuziehen. Nachdem sie ein sicheres Zuhause in Italien gefunden hatten, verließ Kwne die Gruppe und lebte fortan allein und abgeschieden mitten im Wald oberhalb des Gardasees. Von den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes nur sehr selten besucht, beobachtete sie, lernte und half, wenn sie gebraucht wurde. Nur knapp entkam sie zur damaligen Zeit der Hexenverfolgung und flüchtete durch das Land, bis sie letzten Endes auf Sizilien strandete,


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