Lux und Umbra 2. Silke M. Meyer

Lux und Umbra 2 - Silke M. Meyer


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So auch am heutigen Abend.

      „Was fehlt ihr? Kannst du es sehen, Enndlin?“ Kwne verharrte aufmerksam abwartend in ihrer Stellung.

      Enndlin konzentrierte sich und wenig später wurden ihre Augen glasig, ihr Blick ging durch Kwne hindurch und verlor sich weit hinter ihr. Mit einer Stimme, kaum lauter als ein Windhauch, sprach Enndlin schließlich: „Wunden übersäen ihren Körper, doch ich kann nicht erkennen, wodurch sie entstanden. Sie zittert und ihr Gesicht ist bleich. Sie weilt noch nicht im Totenreich, aber sie ist auf dem Weg dorthin, ihr Herz versagt in diesem Moment. Irgendetwas zieht sie zurück ins Leben, sie verharrt auf der Schwelle zwischen Leben und Tod.“

      Enndlin verstummte und mit einem Zucken kam sie zurück in den Raum. Ihr Blick heftete sich auf Kwne, die plötzlich unruhig hin und her rutschte.

      „Konntest du sehen, wo sie sich aufhält?“, fragte Kwne bei Enndlin nach.

      „Italien auf jeden Fall. In einer Zeit weit vor uns. Es befanden sich Berge und sehr viel Wald um sie herum.“

      Kwne wurde immer unsteter auf ihrem Schemel. „Meinst du, es könnte die Gegend um den Gardasee herum sein? Und du sagst, sie befindet sich weit vor uns?“

      „Ja!“ Überrascht blickte Enndlin auf. „Weißt du etwas?“

      Kwne nickte unbehaglich. „Ja. Sie ist nicht allein unterwegs. Sie hat Hilfe an ihrer Seite. Es gefällt mir nicht, aber scheinbar liegt ihm viel daran, ihr Leben zu retten.“

      „Ihm? Wem? Und woher weißt du das?“ Enndlin war so angespannt, dass sie mit durchgedrücktem Rücken bewegungslos auf ihrem Stuhl saß. Sie war die Einzige unter den Schwestern, die fähig war, Menschen zu sehen, egal, wo und wann sie sich gerade aufhielten.

      „Er war bei mir. Damals, als ich noch jung war und zurückgezogen am Gardasee lebte. Ich werde diesen Besuch niemals vergessen. Er handelte aus großer Sorge heraus.“ Mit einem Seufzen beendete Kwne ihre Worte.

      „Du kennst ihn? Du warst dort? Oder nein, du bist dort? Jetzt in dem Moment? Das ist vollkommen paradox, Kwne!“ Enndlin sprang hoch und zog nervösen Schrittes in dem kleinen Raum ihre Kreise.

      „Es ist ja nicht jetzt. Es ist Hunderte von Jahren her. Jetzt bin ich hier, aber sie sind es noch nicht. Wir können im Moment nicht eingreifen, denn ich bin schon dort. Wir können nur abwarten und vertrauen. Er ging mit allem, was er brauchte. Hoffen wir, dass Carly es schafft.“

      „Carly?“ Enndlin stoppte ihr Gerenne.

      Kwne kicherte. „Ja, so nannte er sie. Sie schien ihm sehr wichtig zu sein.“

      Die Oberste zog die Augenbrauen nach oben. Offensichtlich missbilligte sie diese Betitelung. „Sie ist eine von Lux und Umbra, scheinbar die Mächtigste, die je geboren wurde. Carly scheint mir doch ein sehr unpassender Name zu sein.“ Sie schüttelte verärgert ihren Kopf. „Gut, also warten wir weiter ab. Und hoffen, dass deine Erinnerung dich nicht trügt.“

      Ehrfürchtig verbeugten sich beide Frauen voreinander. Ein Ritual, welches zum Abschied ganz normal war und beinah unbewusst getätigt wurde. In ihrem Fall jedoch war diese Geste genau das, was sie darstellen sollte: Respekt und tiefe Ehrfurcht voreinander. Enndlin verließ Kwnes Hütte und zog sich zurück. Schlaf würde sie heute nicht finden, doch zumindest etwas ausruhen.

      *8*

      Nach deinem Tode wirst du sein

      was du vor deiner Geburt warst.

      Arthur Schopenhauer

      Sie spürte den immer wiederkehrenden Druck auf ihre Brust, doch es war ihr egal. Das dunkle Loch, das vor ihr lag, zog sie an wie ein Magnet. Es schien zum Greifen nahe und doch schwebte sie fast auf der Stelle in der Luft und kam dem lockenden Eingang nur Millimeter um Millimeter näher. Sie streckte ihre Hände nach vorn, versuchte, die Ränder der Öffnung zu fassen, doch als sie das glitschige Material endlich mit den Fingerspitzen berührte, wurde sie von zwei heftigen Stößen zurückgezogen. Dann kehrte der rhythmische Druck auf ihrer Brust zurück, doch dieses Mal nutze sie ihn, bewegte sich schneller auf den Eingang zu, umklammerte die Ränder, als sie wieder nach hinten gezerrt wurde. Zweimal. Aber ihre Finger hatten sich eingegraben in die Masse, deren Ursprung sie nicht feststellen konnte, für deren Konsistenz sie keine Worte fand. War es fest? Oder doch eher durchscheinend wie Gas? Um ihre Finger herum, die mitten in der Masse steckten, fühlte es sich an, als wäre es flüssig. Doch bevor sie das, was sie fühlte, genauer identifizieren konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit auf Gestalten gelenkt, die aus dem Inneren des Schlunds auftauchten. In schwarze Kutten gehüllt, und doch waren Gliedmaßen zu erkennen. Sie kamen näher, hatten sie fast erreicht, als zwei Stöße an ihr zerrten, sie losreißen wollten, verzweifelt flehend. Sie wusste, dass sie nachgeben sollte, doch zur Rückkehr fehlte ihr etwas. Etwas, dass sie dringend brauchte, jedoch nicht benennen konnte. In ihrem Kopf existierte nichts. Ihre Gedanken waren weich, träge, nicht fähig zu kombinieren. Zu spät sah sie die Waffen in den Händen der vermummten Gestalten, die sie nun umringt hatten, die Spitzen ihrer Sensen auf sie gerichtet. Ohne eine Lücke zu lassen, umschlossen sie sie. Kein Fluchtweg, doch sie hätte ohnehin nicht gewusst, wo entlang sie gemusst hätte. Dann, wie auf Kommando, streckten sie alle ihre Arme nach vorn und die Spitzen, aus denen ein schwarzes Sekret sickerte, durchbohrten ihren Körper.

      Sie schrie, ohne einen Ton von sich zu geben. Ihre Hände ließen den Eingang los, an dem sie sich festgeklammert hatte und legten sich schützend, doch vollkommen sinnlos um ihren Leib. Die Spitzen der unzähligen Waffen drehten sich tiefer in ihren Körper. Bis sie mit einem Ruck herausgezogen wurden und sie nach unten fiel.

      Sie fiel und fiel und fiel - zusammengekauert in Embryonalhaltung durch die Finsternis, spürte jeden einzelnen Stich, der ihr zugefügt worden war. Als es heller wurde und ihr Fall sich noch zu beschleunigen schien, schloss sie die Augen. In ihrem Kopf entstand ein Gedanke, formte sich ein Gesicht, neben dem ein zweites auftauchte. Zwei Gesichter, die sie kennen sollte, aber nicht erkannte. Ihr Kopf sagte ihr nicht, wen er ihr zeigte, aber ihr Herz erkannte. Das durfte nicht das Ende sein. Nicht heute, nicht jetzt. Sie brauchten sie – beide! Sie riss die Augen auf und fand sich in einem silbrig hellen Licht wieder, spürte, wie weiche Schwingen sie auffingen, ihren Körper umschmeichelten. Wie sie von einem zum anderem gereicht wurde, wie jede Berührung, die so sanft war wie ein Federstreif, Wärme ausstrahlte, jede einzelne Wunde, die die dunklen Wesen ihr zugefügt hatten, sich verschloss.

      Der Druck auf ihrer Brust kehrte in ihr Bewusstsein zurück. Der helle Lichtkreis, der sie umgab, wurde enger, zog sich zusammen und als sie dachte, dass nun der Moment kam, an dem die zwei Stöße wiederkehren mussten, war sie bereit. Sie hatte alles bekommen, was ihr gefehlt hatte. Die Schwingen, die sie hielten, halfen, indem sie sie in derselben Sekunde des einsetzenden ersten Rucks mit Druck nach oben warfen. Der zweite Ruck schleuderte sie nun durch den schwarzen Gang, vorbei an den dunklen Gestalten, die geblendet ihre Kutten um sich wickelten und sich duckten.

      Dann spürte sie den Schmerz auf ihrem Körper wieder, die Anstrengung, als ihre Lungen die Luft einsogen und mit lautem Rasseln ihre Rückkehr kundtaten.

      *

      Sage machte unbeirrt weiter. Auch Antonio erschien nun in der offenstehenden Tür, betrachtete mitfühlend den verzweifelten Versuch seines Gastes, Carly ins Leben zurückzuholen. Als Sage Carly wieder beatmete, wie von Sinnen ihren Brustkorb erneut bearbeiten wollte, erklang das ersehnte Lebenszeichen als lautes Rasseln aus Carlys Kehle. Sie atmete. Selbstständig und von sich aus. Erleichterung durchströmte Sage. Solange Carly atmete, war sie kein Vampir. Sage sank auf dem Bett nieder, Marietta bekreuzigte sich und Antonio blieb der Mund offenstehen.

      Marietta durchbrach die Stille. „Kann ich Euch etwas bringen, mein Herr?“ Sichtlich verwirrt und doch erleichtert blickte sie ihren Gast dabei an. Der schüttelte den Kopf. Er hatte alles, was er brauchte. Carly musste nur gesund werden.

      „Danke.“ Sage drückte Mariettas Hand. Die Hausherrin und ihr Mann gingen zusammen hinaus und schlossen behutsam die Tür.


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