Quantumdrift. Tilo Linthe
Fliehkräfte dort viel höher sind."
Darüber hatte Sam noch nie nachgedacht. Es leuchtete aber ein. Wenn man einen Stein an einem langen Seil drehte und losließ, flog er viel weiter, als an einem kurzen Seil. Außen waren die Fliehkräfte viel höher als innen.
"Und jetzt stell dir vor, du würdest einen Tag, eine Woche oder sogar einen Monat mit diesem Karussell fahren. Es würde dich umbringen. Das nennt man übrigens Gezeitenkräfte."
Die Wand war nun so nah, dass Sam das Gefühl hatte, sie mit den Händen berühren zu können. Er konnte jetzt nicht einmal mehr deren Krümmung ausmachen.
"Die Gezeitenkräfte sind ein Problem. Ein Raumschiff mit einem Drehsegment hätte einen viel zu kleinen Durchmesser - das würde kein Mensch lange aushalten. Erst wenn der Durchmesser mindestens drei Kilometer beträgt, sind die Unterschiede zwischen Kopf und Füßen so klein, dass man sie vernachlässigen kann", erklärte Theresa weiter.
Aus der Wand kam ein Schlauch, der wie eine Ziehharmonika aussah und mit dem Schiff verbunden war, und plötzlich erlosch die imposante Szene um sie herum. Sie standen wieder in dem kuppelartigen Raum mit den halbkugeligen Holoprojektoren.
Theresa sah Sam an.
"So, wir sind da … Jetzt heißt es wohl Abschied nehmen."
Sam nahm sie in den Arm. "Danke. Für alles", flüsterte er ihr ins Ohr.
Ein letztes Mal gingen sie Hand in Hand durch das Schiff. Ein letztes Mal lächelte Theresa Sam mit einem Anflug von Wehmut an.
"Ich hoffe, wir sehen uns wieder."
"Ich auch."
Ein letzter zaghafter Kuss auf die Lippen der Frau, die ihm auf dieser Reise Kraft und Halt gegeben hatte.
"Wer weiß? Vielleicht können wir es so drehen, dass du wieder auf die Arkanos kommst?"
Dieser Gedanke war Sam noch gar nicht gekommen, aber sie hatte recht. Er war schließlich kein Gefangener. Wie viel Gestaltungsspielraum würde er in dieser rätselhaften neuen Welt haben? Bevor Theresa allein in den Eingeweiden der Arkanos verschwand, drehte sie sich ein letztes Mal um und winkte Sam zu. Er spürte diesem neuen Gedanken nach: Er konnte sein Leben selbst bestimmen, war nicht nur Spielball und den Ereignissen ausgeliefert. Zum ersten Mal seit seiner Wiedergeburt verspürte er Zuversicht.
"Nicht, wenn ich es verhindern kann." Wie von einer kalten Dusche wurde alle Wärme fortgespült. Am Ausgang zur Station erwartete ihn Damian McQuire mit einem kalten Lächeln auf den dünnen Lippen. "Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie sich nie wiedersehen."
Sam stand nur da und sagte nichts, während McQuires Lächeln noch breiter wurde.
"Mitkommen!" Er krümmte seinen spindeldürren Zeigefinger wie eine Hexe, die Hänsel in ihr Pfefferkuchenhaus locken wollte. Dann drehte er sich um und ging schnellen Schrittes voran, ohne sich noch einmal nach Sam umzudrehen. Der froschhafte Gang, für den seine überlangen Gliedmaßen sorgten, wirkte eigentlich lächerlich, aber Sam fühlte sich, als würde er seinem Henker geradewegs zum Schafott folgen. Um sich von diesem beunruhigenden Gefühl abzulenken, sah er sich um.
Diese Station sah eigentlich genauso aus wie Arrival und war doch ganz anders. Die gleichen golden schimmernden Wände ohne jede Bearbeitungs- oder Abnutzungsspuren, die gleichen labyrinthartigen Gänge die durch Räume und Hallen führten. Aber hier wirkten sie nicht trostlos und verlassen - hier herrschte geschäftiges Treiben. Männer und Frauen, die allesamt die goldene Hautfarbe hatten wie die Wände, gingen zielstrebig ihren Geschäften nach. Sam fragte sich, welche Ziele sie wohl verfolgen mochten.
An einer Stelle arbeitete eine Schar Techniker gerade an einem Durchbruch in einer Wand. Mit Laserschweißbrennern schnitten sie mühselig durch die goldene Substanz, die passiven Widerstand zu leisten schien - das Material musste wirklich sehr widerstandsfähig sein. Schließlich entstand eine Öffnung, die viel zu groß war für den Fensterrahmen, den die Techniker hastig einsetzten. Aus irgendeinem Grund schienen sie es damit sehr eilig zu haben. Dann blieb Sam stehen und blinzelte. Unterlag er einer optischen Täuschung oder war die Öffnung doch nicht so viel größer, wie es zunächst den Anschein hatte? Je länger er hinschaute, desto mehr tränten seine Augen. Sam machte sie kurz zu und staunte, als er sie wieder öffnete. Der Rahmen schloss nun bündig mit der goldenen Wand ab und knarrte bedenklich, als stünde er unter Druck. Die Techniker ließen den Rahmen erleichtert los und begutachteten ihr Werk.
Sam hatte keine Zeit, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, denn McQuire hatte bereits einen gehörigen Vorsprung und schien nicht gewillt, auf ihn zu warten. Je weiter sie gingen, desto dichter wurde der Verkehr. Was Sam aber irritierte, war, dass um ihn herum ausschließlich Menschen unterwegs waren. Er hatte noch keinen einzigen Außerirdischen zu Gesicht bekommen. Hätte er die riesige Station und die angedockten Raumschiffe nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er sich genauso gut in einer exotisch gestrichenen Einkaufspassage befinden können. Vor einem Tor verdichtete sich die Menschenmenge. Scheinbar wollten sie alle in den Raum dahinter.
"Was ist hinter diesem Tor?", fragte er eine Passantin.
"Der Portalraum. Heute ist da drin die Hölle los. Wenn du noch eine Passage willst - vergiss es am besten! Ich verpasse einen wichtigen Termin, weil ich so lange warten muss." Sie war sichtlich genervt.
Sam nickte verständnisvoll. Manche Dinge änderten sich offenbar nie - auch bei Überlichtgeschwindigkeit ging noch alles zu langsam. Und zu langsam war auch Sam. Er musste sich beeilen, um zu McQuire aufzuschließen. Standhaft schien der zu ignorieren, dass Sam gar nicht mehr hinter ihm war. Was würde er machen, wenn ich ihn einfach davonziehen lassen würde? Ich bin frei und kann selbst entscheiden, wohin ich gehe. Dennoch wurde er schneller, bis er wieder aufgeholt hatte. Folgsam wie ein Dackel lief er dem Koordinator hinterher und verfluchte sich gleichzeitig dafür. Es war, als übte McQuire eine unheimliche Macht über ihn aus.
In diesem Moment blieb der vor einer Tür stehen, die von zwei Soldaten in Samurairüstungen und mit ihren Waffen im Anschlag bewacht wurde. Unbeweglich standen sie da, als sich die Tür öffnete und der Froschgesichtige Sam mit ironisch unterwürfiger Geste bat, einzutreten. Er kam in einen schmucklosen Konferenzraum, dessen einziges Zugeständnis an die menschlichen Sinne eine Topfpflanze war, die allerdings auch schon bessere Tage gesehen hatte. Mehrere Personen saßen auf der Sam gegenüberliegenden Seite des gebogenen Konferenztisches.
Die Tür hinter ihm schloss sich mit einem dumpfen Geräusch; er fühlte sich, als würde er vor einem Tribunal stehen, das ihm eine Zukunft im Paradies bescheren konnte oder aber eine in der Hölle. Dankbar registrierte Sam, dass zumindest Damian McQuire draußen geblieben war.
Ein Mann ergriff das Wort, dessen Anblick Sam überraschte. Er war auch goldgesichtig, doch was ihn von den anderen unterschied, war eine riesige Narbe, die sich vom linken Auge über die Wange bis zum Kinn hinabzog. Sam hatte hier oben noch niemanden gesehen, der eine körperliche Beeinträchtigung gehabt hätte, obwohl Soldaten mit Verstümmelungen oder Narben angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Vinculan nicht ungewöhnlich gewesen wären. Es war reines Glück gewesen, dass auf der Arkanos beim letzten Angriff niemand verletzt worden war.
"Ich bin Admiral Sayad Sahim, Mitglied des Hohen Rates, des Führungsgremiums im Konsistorium. Und das hier ist Juanita Alvarez, Kommandantin von Point Alpha, der Ausbildungsstätte auf Batox."
Der Narbige deutete auf eine Frau mit spitzen Lippen, die etwas zu klein geraten war. Ihre Uniform schien besonders genau zu sitzen, die Bügelfalten waren besonders akkurat, die Knöpfe waren besonders blank geputzt. Der Mann neben ihr, der Sam als Admiral Alan Stone vorgestellt wurde, war das genaue Gegenteil von ihr. Er trug einen schlichten, zerknitterten Drillich und sah aus, als würde er sich wenig darum scheren, was andere über ihn dachten. Vermutlich handelte er genauso pragmatisch wie er sich kleidete.
"Bitte setzen Sie sich", sagte Sahim.
Eingeschüchtert von so viel geballter Befehlsgewalt setzte sich Sam auf den einzigen Stuhl, der ihnen genau gegenüberstand. Er hatte das ungute Gefühl, auf der falschen Seite des Tischs zu sitzen.
Der Admiral