Götterglaube. Kristina Licht

Götterglaube - Kristina Licht


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der Sache zu tun haben wollen. Ich will nichts damit zu tun haben! Geh zu Paige! Wo ist sie überhaupt?«

      Ich holte tief Luft und verschränkte die Arme. Okay, das waren jetzt mehr Sätze gewesen, als ich eigentlich hatte sagen wollen. Jetzt wirkte es so, als kümmere es mich, dass Paige mir in den Rücken gefallen war. Aber das tat es nicht. Paige konnte mir gestohlen bleiben. Und die Hilfe von diesem blonden, arroganten Mann ebenfalls.

      Bevor Milan den Mund öffnen konnte, fuhr ich dazwischen: »Weißt du was? Du brauchst gar nicht zu antworten! Ich will die Antwort nicht hören. Lass mich in Ruhe.« Ich wirbelte herum, tat ein paar Schritte und stolperte auf einmal über eine Wurzel. Ich spürte bereits, wie ich dem Boden entgegenflog, doch dann wurde ich von hinten an meiner Jacke gepackt und zurückgezerrt.

      »Bist du taub? Ich brauche deine Hilfe nicht!« Diesmal sah ich genauer hin, wo ich hinlief, bevor ich erneut losstampfte. Kaum verhallte meine Stimme zwischen den Ästen, bereute ich es, so laut gewesen zu sein. Ich musste vorsichtiger sein, wenn ich nicht von noch jemandem gefunden werden wollte.

      »Wir können das die ganze Nacht machen. Kein Problem«, plauderte Milan hinter mir in gedämpftem Tonfall. Im Gegensatz zu mir schien ihn die Situation nicht aufzuregen. »Ich habe vorhin erst gegessen. Einen richtig großen, geilen Burger. Mit doppelt Fleisch. Du isst doch Fleisch, oder?«

      Verarschte mich dieser Mann? Er wollte mich weichkriegen, schon klar. Vermutlich wollte er, dass ich ihn um Hilfe anbettelte. Er wollte, dass die Kälte oder der Hunger mich schwach machten, wenn es die Angst bei mir anscheinend nicht schaffte. Aber Milan kannte mich nicht. Wenn er das von mir erwartete, würde ich erst recht dagegen ankämpfen. Niemals würde ich einen Mann wie ihn um etwas anflehen.

      »Oh, es ist gleich zweiundzwanzig Uhr. Paige liegt bestimmt schon in ihrem warmen Bett, hat einen heißen Kakao getrunken und kuschelt sich jetzt unter die Bettdecke, während sie vorm TV eindöst. Oder vermutlich eher vor einem Buch. Was machst du lieber? Lesen oder fernsehen?«

      Seit einer Stunde plapperte Milan ununterbrochen. Wenn Ewan die schweigsamste Person war, die ich kannte, dann war Milan das genaue Gegenteil. Ich blieb dabei, ihn zu ignorieren. Auch wenn er Paige erwähnte und damit andeutete, dass sie derzeit bei ihm wohnte. Ich ließ mir nichts anmerken und fokussierte mich darauf, einen Schritt vor den nächsten zu setzen. Mittlerweile stolperte ich immer öfter, weil ich kaum noch stehen konnte. Ich hätte nicht gedacht, dass es in diesem Land so riesige Wälder gab. Ich hatte mich gnadenlos verlaufen und selbst, wenn ich Milan meine Schwäche eingestehen würde, würde es nichts mehr bringen. Er war ein Verfluchter und kein Zauberer. Er konnte nicht mit den Fingern schnipsen und uns an einen anderen Ort teleportieren. Auch wenn er, als er mich gefunden hatte, irgendwo in der Nähe ein Auto gehabt hatte, war das jetzt irrelevant, weil wir erstens das Auto niemals wiederfänden und zweitens ohnehin mehrere Stunden bis dorthin bräuchten. Und mehrere Stunden würde ich nicht mehr aushalten. Ich hielt kaum noch eine weitere Minute aus.

      Ich blieb stehen, ließ meine Tasche fallen und setzte mich auf den kalten Waldboden. Ich spürte ohnehin nichts mehr. Mein Körper war so unterkühlt, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich hinzulegen und zu einer Kugel zusammenzurollen. Alles war taub und steif. Es fühlte sich gar nicht an wie mein Körper.

      »Hey, was tust du da?«, hörte ich Milans Stimme von weit, weit weg.

      Mit letzter Kraft zog ich mein Handy hervor und kontrollierte den Empfang. Bitte, bitte lass mich Netz haben. Ein einsamer Streifen verhöhnte mich. War das genug, um jemanden zu erreichen? Um aus diesem Wald herauszufinden? Ich würde es gleich versuchen. Mein Finger schwebte über dem Display, doch schwarze Flecken nahmen mir die Sicht. Nur eine Sekunde ausruhen …

      »Kiara?«

      Ich schloss die Augen und legte den Kopf zurück, doch anstatt gegen einen Stamm zu sinken, kippte ich kraftlos zur Seite.

      ***

      Die Orgel begleitet meinen Gang zum Altar. Ich sehe zu den unzähligen Gesichtern, die mir von den Kirchenbänken entgegenstrahlen. Zwischen dem ein oder anderen Lächeln entdecke ich nasse Augen. Mein Blick wandert nach links zu dem Mann, der an meiner Seite läuft und bei dem ich mich untergehakt habe. Papa. Ich lächele rührselig, freue mich, dass all unsere Streitereien an diesem Tag bedeutungslos sind. Ich bin endlich die Tochter geworden, die er sich immer gewünscht hat. Als er meinen Blick bemerkt, drückt er aufmunternd meinen Arm. Ich sehe wieder nach vorn zum Altar, vor dem Falk bereits auf mich wartet. Er trägt einen sündhaft teuren schwarzen Anzug und seine sonst wirren goldenen Locken sind heute streng nach hinten frisiert. Er beobachtet mich, kann den Blick nicht von mir losreißen. Die Tränen in seinen Augen schnüren mir die Kehle zu. So viel Zuneigung fließt durch meine Brust, dass sie mir die Luft nimmt.

      Das hier ist wahrgewordene Liebe.

      Als ich direkt vor meinem Bräutigam stehen bleibe, verstummt die Musik. Die gesamte Kirche ist still und schaut zu uns hoch.

      Die Worte des Pastors brechen die Stille und heißen die Anwesenden willkommen. Ich höre gar nicht richtig zu, so nervös bin ich. Ich kann nicht glauben, dass ich ab heute seine Frau sein werde. Dass ich eine Familie gründen werde. Dass ich endlich ankomme, anstatt rastlos weiterzuziehen.

      »Kiara Elisabeth Golding, wollen Sie den hier anwesenden Falk Reuer zu Ihrem rechtmäßigen Angetrauten nehmen, ihn lieben und ehren, in guten wie in schlechten Tagen, so antworten Sie mit Ja, ich will.«

      Mein Herz hüpft mir fast aus der Brust. Falks blaue Augen blicken direkt in meine, geben mir Halt, Sicherheit, Liebe.

      »Ja, ich will.«

      Mit einem Schrei fuhr ich hoch. Keuchend drehte ich den Kopf in alle Richtungen und realisierte langsam, dass ich nur geträumt hatte. Ich lag in einem Bett, die Sonne schien durch das Fenster – doch nichts an diesem Zimmer kam mir vertraut vor.

      Wo zur Hölle bin ich?

      Ich rieb mir übers Gesicht, versuchte diesen äußerst irritierenden Traum zu vergessen und sah mich noch einmal in Ruhe um. Die Wände waren fliederfarben, schwere graue Vorhänge fielen neben dem Fenster bis zum Boden. Die Möbel waren weißes schlichtes Ikea-Mobiliar, es befand sich keinerlei unnötige Deko oder persönliche Note in dem Zimmer.

      Ich schlug die ebenfalls fliederfarbene Bettdecke zurück und sah an mir herunter. Zum Glück war ich angezogen. Angestrengt versuchte ich, mich an den vergangenen Abend zu erinnern, doch immer wieder landete ich bei den Bildern meines Traums. Ich wollte mich beim Anblick von Falks Gesicht schütteln, doch stattdessen klopfte mein Herz schneller. Was war nur los mit mir? Mein Körper schien sich nicht einmal entscheiden zu können, ob ich gerade aus einem Albtraum oder einem Wunschtraum erwacht war.

      Meine trockene Kehle und die dumpfe Leere in meinem Magen brachten mich zum Glück auf andere Gedanken. Ich schwang die Beine aus dem Bett und konzentrierte mich. Das Landhaus in den Wäldern. Ich hatte erneut die Flucht ergriffen. Als ich aufstand und das Zimmer durchqueren wollte, fiel mir meine Reisetasche ins Auge, die neben dem Bett am Boden lag. Ich runzelte die Stirn. In dem Moment, in dem mich der Schwindel überkam, kamen auch die Erinnerungen zurück.

      »Milan!«, keuchte ich und wankte zur Tür. Der Adrenalinpegel in meinem Körper stieg schlagartig an und verscheuchte das Schwindelgefühl. Wenn dieser Mann es gewagt hatte, mich zu entführen und in sein Bett zu legen, als wäre ich eine Barbiepuppe –

      Ich riss die Tür auf und sah mich auf dem Gang davor um. Obwohl alle Wände weiß gestrichen waren, fühlte ich mich, als befände ich mich in einem Haus aus Schatten. Kein Sonnenstrahl drang hier herein und es herrschte eine eiskalte Atmosphäre, als würde eine Dunkelheit auf mich lauern. Als befände sich die Gefahr bereits hinter der nächsten Ecke oder der nächsten Tür.

      Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und schlich über den dunklen Holzboden bis zur Treppe. Von unten drangen Geräusche zu mir herauf.

      »Na, endlich wach?«

      Zu Tode erschrocken fuhr ich herum und entdeckte Milan, der nur ein paar Schritte hinter mir stand. Wie hatte ich ihn nicht näher kommen hören?

      »Du hast mich zu dir gebracht?


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