Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell

Seit ich dich kenne ... - Jascha Alena Nell


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auslegten. „Adler sind meine Lieblingstiere“, hatte ich gesagt, „sie symbolisieren so viele Werte, die mir wichtig sind, wisst ihr.“ Layla und Amanda hatten mich komisch angesehen. „Also, meine Lieblingstiere sind Delfine“, erzählte Amanda mir, woraufhin Layla sagte: „Ich finde Pferde am coolsten.“

      Sophia hatte sich nicht dazu geäußert. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie dieses Gespräch überhaupt mitbekommen hatte, und nun musste ich feststellen, dass sie sich selbst drei Monate später noch daran erinnerte und sich Gedanken gemacht hatte.

      „Gefällt’s dir?“, fragte sie jetzt unsicher.

      Ich wandte den Blick von dem fein gearbeiteten, wunderschönen Vogel in meiner Hand ab, der trotz seiner Zierlichkeit und zwergenhaften Größe stolz und mächtig aussah, blickte sie an, lächelte, machte einen Schritt auf sie zu und zog sie kurzerhand in meine Arme. Ich war gerührt und hatte so ein liebevolles Gefühl für sie in meiner Brust, dass ich sie einfach an mich drücken musste. Nachdem sie erst erschrocken zusammengefahren war, schmiegte sie sich nun fest an mich, legte ihre Arme um mich und ließ sich fallen. Es fühlte sich gut an, sie im Arm zu halten, und ich hoffte, dass sie sich behütet und geborgen fühlte. Ein wenig wunderte ich mich schon über mich selbst ‒ eigentlich war ich nicht der Typ für so was. Kein Kuscheltyp. Unwillkürlich dachte ich an jene Nacht vor knapp acht Monaten zurück, als ich bei diesem Rotschopf übernachtet und den Arm um die Kleine gelegt hatte. Wie hatte sie noch gleich geheißen ... Ayla, Eva, Emma, Ella? Irgendwie so. Zuvor hatte ich sie kaum gesehen und dann hatte ich den Arm um sie gelegt und mich gegen sie gedrückt. Auch damals hatte es mir gefallen. Hm, vielleicht war ich doch der Kuscheltyp ...

      Sophia bewegte sich sanft in meinen Armen und ich ließ sie los. Wieder mal war sie knallrot wie eine überreife Tomate, was total süß aussah, ihre Augen glitzerten und ihre Knie zitterten wie Wackelpudding. Wirklich, sie war niedlich. Wenn ich mich selbst nicht so gut kennen würde, würde ich mich vielleicht auf sie einlassen, es mit ihr versuchen. Aber ich war nun mal ein Mistkerl, ob ich wollte oder nicht. Keine Ahnung, ob ich überhaupt zu echten Gefühlen fähig war. Was, wenn ich auch zum Schläger wurde, wenn ich eine feste Beziehung einging? Was, wenn ich genauso war wie mein Vater und es nur noch nicht gemerkt hatte?

      Vielleicht hatte meine Mutter es gewusst und war deshalb abgehauen. Vielleicht hatte sie gewusst, dass ich mal werden würde wie er, und hatte beschlossen, uns beiden zu entrinnen, anstatt später, wenn ich stärker war als sie, mich an der Backe zu haben. Dabei war es eine absurde Vorstellung, dass ich ihr wehtun könnte. Niemals würde ich die Hand gegen meine Mutter erheben.

      Ich schüttelte die Gedanken ab. Ich hatte im Sommer halbherzig nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden. Sie stand nicht im Telefonbuch, Recherchen im Internet blieben auch erfolglos und bei der Auskunft kannte keiner den Namen Maria Waldoff. Ich probierte es mit Maria Stein, vielleicht hatte sie nach der Scheidung ihren Mädchennamen wieder angenommen, aber es fruchtete nicht. Wahrscheinlich wollte sie einfach nicht gefunden werden. Von niemandem, nicht mal von ihrem eigenen Sohn. Ich war erst frustriert, dann wütend, später enttäuscht, zum Schluss blieb die Traurigkeit. Vielleicht war es mir vorherbestimmt, ein Leben ohne Mutter zu führen. Ich war auch die letzten zehn Jahre ganz gut klargekommen. Mehr oder weniger ...

      Außerdem, dachte ich immer wieder, wenn sie mich sehen wollte, würde sie den Kontakt zu mir herstellen. Ich war schließlich nicht schwer zu finden. Und jetzt, da ich erwachsen war, konnte sie sich denken, dass ich von meinem Vater weg war und von ihm keine Gefahr mehr für sie ausging.

      Gut möglich, dass sie damit abgeschlossen hatte. Dass sie mich nicht mehr wollte, mich nicht brauchte in ihrem Leben. Vielleicht hatte sie eine neue Familie, einen neuen Sohn, den sie mehr liebte als mich. Mir wurde schlecht, wenn ich zu lange darüber nachdachte. Meine Mutter hatte mich verlassen und mein Vater hatte mich verstoßen. Ich war ein Kind, das keiner wollte. Wäre ich nicht so stark, würde ich in Selbstmitleid zerfließen. Aber ich hatte es nicht nötig. Ich war erwachsen. Ich brauchte keine Eltern.

      „Äh“, Sophia schnappte hektisch nach Luft und strich sich eine wirre Strähne aus der Stirn, „möchtest du das Armband anlegen? Oder lieber nicht?“, fügte sie schnell hinzu, ehe ich überhaupt auf die erste Frage antworten konnte. Gott, sie war so verdammt unsicher.

      Auffordernd hielt ich ihr mein Handgelenk hin. „Klar, mach’s dran! Darum werden mich mit Sicherheit alle beneiden, glaub mir.“

      Mit einem prüfenden Blick vergewisserte sie sich, dass ich das nicht ironisch meinte. Ich sah ihr fest in die Augen und signalisierte ihr, dass ich mich ehrlich über ihr Geschenk freute und es mit Stolz tragen würde. Da lächelte sie, machte einen weiteren Schritt auf mich zu und legte mir das Armband ums Handgelenk. Sie fummelte am Verschluss herum, wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser und fluchte leise. Ich hielt ganz still, mich störte unsere Nähe nicht, eher im Gegenteil. Ich konnte ihr süßliches Parfum riechen, ein blumiger, unaufdringlicher Rosenduft.

      „Dieses blöde Ding ... entschuldige, Chris“, sagte sie zunehmend verzweifelt.

      „Hey, alles cool“, beruhigte ich sie und hätte ihr am liebsten die Schulter getätschelt, doch ich befürchtete, dass sie dann in Ohnmacht fiel.

      Als es ihr fast gelungen war, das Armband zu schließen, platzten Amanda und Layla lachend und schnatternd herein. „Endlich hab ich meine Haare wieder im Griff. Danke für das Haarspray, Süße“, tönte Layla lauthals.

      Sophia zuckte erschrocken zusammen und ließ das Armband fallen, es schlitterte über den Boden und rutschte unter den Verkaufstresen. Das arme knallrote Mädchen bekam jetzt auch noch rote Flecken am Hals und schlug sich die Hände vors Gesicht.

      „Alles klar bei euch?“, rief Layla neugierig, während sie sich hinter ihre Kasse klemmte. Sie grinste wissend. „Oder habt ihr hier irgendwas Unartiges getrieben, während wir weg waren?“ Sie verstellte ihre Stimme und flötete: „Stören wir?“

      Amanda rollte mit den Augen, warf Sophia einen mitleidigen Blick zu und stellte sich hinter ihre Kasse. „Halt die Klappe, Layla“, wies sie ihre Freundin streng zurecht.

      Ich ging in die Knie, robbte halb unter den staubigen Verkaufstisch und tastete mit der Hand nach dem Lederarmband.

      In diesem Moment ertönte die Glocke des Ladens, ein sanftes Bimmeln, gefolgt von einer hohen Quietschstimme: „Guten Morgen, allerseits!“

      Och nö. Ich schloss gequält die Augen und verharrte in meiner Position. Das war unverkennbar die Stimme von Frau Hartmann, der wohl anstrengendsten Kundin dieses Universums. Sie arbeitete bei einer Werbeagentur zwei Straßen weiter, kam regelmäßig hierher zum Shoppen und hatte mich als ihren persönlichen Berater auserkoren.

      „Chris, Schatz, du weißt doch, was Männer wollen“, schnurrte sie mir bei jedem Treffen lasziv ins Ohr, ihre Hand landete dabei direkt auf meinem Hintern, während sie mich mit viel Gewackel zur Dessousabteilung führte, in der sich kein Mann aufhalten konnte, ohne sich schmutzigen Fantasien hinzugeben. Hatte ich schon oft genug gemacht, in den Mittagspausen, wenn der Laden leer war.

      „Guten Morgen, Frau Hartmann“, säuselten Amanda und Layla unisono, gespielt freundlich.

      „Morgen“, brummte Sophia verspätet und klang alles andere als begeistert. Ich hielt die Klappe, kauerte weiter halb unterm Tresen, während der Staub mich in der Nase kitzelte.

      Schritte näherten sich, das Klappern von Plateauabsätzen hallte laut auf dem Laminatboden. Tanja ärgerte sich regelmäßig über all die Dellen im Boden, Narben, verursacht durch Absatzschuhe. Layla, Amanda und Sophia durften ausschließlich flaches Schuhwerk tragen, Tanja hatte sogar mal gemeint: „Zuwiderhandlungen werden bestraft, für mich ist das ein Kündigungsgrund.“

      Bis heute waren wir uns nicht schlüssig, ob das ein blöder Witz oder ihr Ernst gewesen war, aber da Tanja eigentlich nie scherzte, nahmen die Mädchen diese Drohung ernst und hielten sich strikt an die Regel, auch wenn Amanda und Layla laut eigener Aussage liebend gern Absatzschuhe trugen.

      „Nanu?“ Frau Hartmanns süßliches Zwitschern verursachte mir einen unangenehmen,


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