Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
nur, dass sie in mich verliebt war, und zwar so richtig. Nicht kumpelhaft wie Layla oder neckisch wie Amanda, sondern richtig. Auf der Ebene, auf der es wehtat.
Immer wenn ich sie ansah, lief sie knallrot an, und wenn ich ihr zulächelte, glühten ihre Ohren. Sie stotterte, wenn ich sie direkt ansprach, und stolperte manchmal über ihre eigenen Füße, weil sie so auf mich fixiert war, dass sie ihre Umgebung nicht richtig wahrnahm.
Ich fühlte mich beschissen deswegen, weil ich ihr nicht wehtun, ihr keine Hoffnungen machen wollte, und gleichzeitig wollte ich nett zu ihr sein, sie nicht im Abseits stehen lassen. Seitdem ich versuchte, zu ihr auf Distanz zu gehen, ohne dass es jemand mitbekam, schien sie mich allerdings nur noch mehr zu lieben. Ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte, weil die Mädels, die bisher in mich verliebt gewesen waren und denen ich das Herz gebrochen hatte, mir egal gewesen waren. Aber Sophia war mir nicht egal. Zum ersten Mal überhaupt gab es ein Mädchen, das mir nicht egal war. Ich fand sie auf körperlicher Ebene nicht anziehend, da war keinerlei erotische Spannung zwischen uns, aber dennoch fühlte ich mich irgendwie zu ihr hingezogen. Was ziemlich verwirrend war.
Ich hatte mir mal überlegt, ob ich mit ihr darüber reden sollte, ihr sagen, dass ich sie wirklich mochte auf einer rein freundschaftlichen Ebene und dass es mir sehr leidtat, aber zwischen uns würde nie etwas laufen. Aber dann würde sie sicher in Tränen ausbrechen und ich hatte keine Ahnung, ob ich das verkraften konnte. Also hielt ich vorerst die Klappe und beschloss abzuwarten.
„Na, sieh mal einer an, da ist ja der Liebling aller Frauen“, begrüßte Layla mich grinsend, als ich, fünf Minuten bevor wir öffneten, schwer atmend zur Tür hereinschlüpfte und mich aus meinem Wintermantel schälte.
Es war für Anfang März noch ziemlich kalt draußen, dreckige Schneehaufen türmten sich links und rechts der Straße, matschige Pfützen lauerten in den Schlaglöchern, ein beißender Wind ließ mein Gesicht taub vor Kälte werden und meine Finger waren ganz klamm. Die dünnen Sonnenstrahlen waren nicht stark genug, um zu wärmen, sie machten nicht mal richtig hell. Die Welt sah grau und trist aus heute und es roch nach Schnee. Sicher würde es später noch mal schneien.
„Hey“, sagte ich knapp und wischte meine schmutzigen Wanderschuhe am Fußabtreter ab. „Wie geht’s?“
„Och, bestens.“ Layla steckte sich ihr Namensschildchen an und band die langen blonden Haare zu einem Knoten zusammen. „Und selbst? Wie fühlt man sich als alter Knacker?“
Ach, verdammt, sie wussten, dass ich Geburtstag hatte! Klar, es stand im Kalender, dennoch hatte ich gehofft, sie würden es vielleicht vergessen.
„Ich fühle mich großartig, danke der Nachfrage“, knurrte ich und schob die Sicherheitsnadel meines Namensschilds durch den weichen Kaschmirstoff meines Pullis. „Noch gar nicht alt und gebrechlich.“
„Ach, wie schön!“ Layla lachte und umarmte mich unvermittelt. Überrascht erwiderte ich ihre Umarmung. Sie hielt mich ewig lange fest und ich fragte mich, ob die Chance bestand, dass sie mich heute überhaupt noch mal losließ. „Alles Gute, Chrissi“, hauchte sie mir ins Ohr, woraufhin ich ihr auf den Hintern klapste und sie von mir schob.
„Nenn mich nicht Chrissi, Babe, okay?“, sagte ich und sah sie gespielt finster an.
Layla kicherte und salutierte, dann stürzte sich Amanda auf mich, sprang an mir hoch und schlang mir die Beine um die Hüfte. Ich wankte ein wenig, hatte Mühe damit, sie festzuhalten. Sie war nicht gerade ein Leichtgewicht, außerdem war es mir ein bisschen unangenehm, dass sie mich abknutschte, während Sophia dastand und uns zusah. Als ich ihr zulächelte, grinste sie scheu und sah schnell zu Boden. Verdammter Mist, ich hatte die Tränen in ihren Augen gesehen.
„Guten Morgen, allerseits!“ Tanja kam hereingeschneit, wie immer perfekt gekleidet und frisiert, ihr Blick fiel auf mich und Amanda, wie wir eng umklammert dastanden, auf Layla, die vor dem blinden Spiegel an ihren Haaren herumfummelte, und auf die zu Boden starrende Sophia. Missbilligend tönte sie: „Was steht ihr hier denn so herum? Los, los, es ist halb zehn, schließt den Laden auf! Da.“ Sie warf Sophia den Schlüsselbund zu. „Christopher, Amanda, lasst diesen Unsinn, ihr verknittert bloß eure Klamotten. Außerdem, Amanda, ist das ein furchtbarer Lippenstift, er ist total verwischt. Es sieht aus, als hättest du vergessen, dir den Mund zu waschen. Mach den bitte weg, ja? Und um Himmels willen, Layla, was ist denn mit deinen Haaren los?“
„Keine Ahnung“, jammerte diese und zog zum hundertsten Mal ihren Gummi heraus, ihr Haar war völlig verknotet. „Ich hab heute furchtbare Haare, das liegt am Wetter, bei dieser Luftfeuchtigkeit kräuseln die sich so.“
„Liebe Zeit!“ Tanja schnaubte. „So kannst du unmöglich rausgehen. Also, Layla, Amanda, ab ins Bad und macht euch gesellschaftstauglich. Christopher, geh bitte Sophia im Laden zur Hand, das arme Mädchen ist ja allein völlig überfordert. Ich bin in meinem Büro, Buchhaltung machen. Ach ja, Christopher ... alles Gute zum Geburtstag.“ Der Anflug eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht, dann verzog sie sich in ihr Büro und machte die Tür fest zu.
Amanda und Layla verschwanden kichernd auf der Toilette, die eigentlich viel zu klein für zwei Personen war, während ich tief durchatmete und rüber in den Laden ging.
Sophia hatte bereits die Tür aufgeschlossen, das Geöffnet-Schild umgedreht, alle Kassen angeschaltet und blickte mir nun schüchtern lächelnd entgegen. Ich lächelte zurück, fragte mich, ob ich irgendetwas zu ihr sagen sollte.
Sie biss sich auf die Lippe, als ich mich an ihr vorbeischob und dabei ihre Schulter mit meiner streifte. „Sorry“, murmelte ich unbehaglich.
„Alles gut“, erwiderte sie etwas zittrig.
Sekundenlang standen wir steif und schweigend nebeneinander und ich kam mir absolut bescheuert vor. Draußen trieben sich die ersten Leute herum, die sich an diesem windigen Samstagmorgen auf die Straße gewagt hatten, und bald würden sich die ersten Mädels im Laden einfinden, um kräftig zu shoppen. Wir hatten noch eine Menge Wintersachen hier, die Frühlingskollektion verstaubte irgendwo hinten im Lager in ihren Kartons, aber die würden wir sicher bald mal raushängen müssen.
„Äh, Chris ...“ Sophia räusperte sich und ich war so erleichtert, dass sie mich ansprach, dass ich viel zu schnell zu ihr herumwirbelte und viel zu laut „Ja?“ sagte.
Gleich darauf war es mir peinlich. Wie uncool! Gut, dass Layla und Amanda das nicht mitbekommen hatten, die hätten sich sonst schlappgelacht.
„Also, hm ...“ Sie räusperte sich, ich sah sie erwartungsvoll an und wünschte, sie würde endlich etwas sagen. Schließlich schaffte sie es: „Also, ich ... hab eine Kleinigkeit für dich. Ich hoffe, es gefällt dir.“ Sie zog den Taschenreißverschluss ihrer weiß-schwarz karierten Strickjacke auf und förderte ein kleines, in dunkelblaues Papier eingewickeltes Päckchen zutage. Es passte locker in eine Hand. Dennoch war ich gerührt, dass sie mir ein Geschenk gemacht hatte. Geschenke bedeuteten immer auch Gefühle. Wer beschenkt wurde, konnte davon ausgehen, dass dem Schenkenden etwas an ihm lag. „Alles Gute zum Geburtstag“, murmelte sie und überreichte mir mit gesenktem Blick das Päckchen.
„Danke, Sophia“, sagte ich sanft, nahm ihr das Präsent ab, hielt ihre Hand einen Augenblick länger als nötig fest, räusperte mich und löste vorsichtig die Klebestreifen. Ich hoffte, dass jetzt kein Kunde reinkam und die anderen beiden Mädels nicht hereinplatzten, dieser Moment sollte nur Sophia und mir gehören. Ich schlug das Papier auseinander und betrachtete das Lederarmband, an dem ein aus feinem Holz geschnitzter Vogel baumelte. Nein, nicht nur ein Vogel. Ein Adler. Der König der Lüfte.
Ich lächelte. Adler waren schon immer meine Lieblingstiere gewesen, früher, als ich noch ein Kind gewesen war, hatten Mama und ich oft Ausflüge in die Berge unternommen, weil meine Mutter in München aufgewachsen war, nahe den Alpen, und weil sie es liebte zu wandern. Dort hatte ich zum ersten Mal eines dieser Tiere gesehen ‒ groß und mächtig, mit breiten Schwingen, stechenden kleinen Augen, dem spitzen gelben Schnabel, der sich zum Schrei öffnete. Von da an war ich fasziniert gewesen von diesen majestätischen Vögeln. Sie symbolisierten alles, was ich mir wünschte: