Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
Ich griff unter Wasser nach ihrer Hand, hielt mich mit der zweiten weiterhin an Timo fest. „Konnte er gut küssen?“
Kim grinste und nickte begeistert. „Oh ja, er war der Beste bis jetzt. Ich sage dir, Edda, diese Südländer küssen so was von gut. Und sie sind alle wahnsinnig sexy, findest du nicht? Wie schade, dass du vergeben bist.“
„Hey!“, riefen Timo und ich unisono. Prompt tauchte mein Freund Kim unter. Prustend kam sie wieder hoch, lachte und wischte sich über die Augen. „Aber was soll’s, so bleiben immerhin mehr für mich.“ Sie zwinkerte uns zu, ließ sich auf den Rücken fallen und planschte sanft mit den langen, schlanken Beinen. Die rot lackierten Zehennägel leuchteten kilometerweit und lockten sicher schon den nächsten knutschfreudigen Kandidaten an.
„Wo hast du denn deinen Toyboy gelassen?“, wollte Timo spitz wissen, während er die Arme um meine Taille legte.
Kim warf ihm einen bösen Blick zu. „Sein Name ist Diego, wenn du es genau wissen willst, und er ist NICHT mein Spielzeug. Ich mag ihn wirklich.“
„Na dann“, sagte Timo, ohne zu erwähnen, dass sie das bei den vier Typen zuvor ebenfalls behauptet hatte, und deren Namen hatte sie schon wieder vergessen.
„Hey, lasst mich doch ein bisschen Spaß haben“, sagte sie achselzuckend. „Es muss ja nicht jeder so langweilig sein wie ihr und gleich den Erstbesten nehmen.“
Okay, das war jetzt wirklich unverschämt gewesen, aber ich würde es gut sein lassen. Sie meinte es nicht so, das wusste ich. Schnell küsste ich Timo, der bereits wütend den Mund öffnete, und flüsterte ihm ins Ohr: „Lass sie.“
Später, als Kim wieder mit ihrem Diego rummachte, erklärte ich ihm: „Tief in ihrem Inneren trauert sie um Basti. Sie hat ihn wirklich geliebt und dieser Mistkerl hat sie verlassen. Kim versucht, damit fertig zu werden, indem sie sich mit anderen Jungs ablenkt und sich selbst beweist, dass sie attraktiv genug ist, um andere auf sich aufmerksam zu machen.“
„Aha“, Timo sah mich kopfschüttelnd an, „die Psyche der Frauen kapiert kein Mensch.“
„Falsch“, murmelte ich und küsste ihn sanft, „nur Männer kapieren das nicht. Das ist zu hoch für euch.“ Als Strafe für diesen Spruch tunkte er mich unter.
*
2003
Chris: „Chris, Mann, altes Haus, alles Gute zum Zwanzigsten!“
„Danke, Lukas“, sagte ich, während ich einhändig versuchte, meinen leicht angebrannten Toast mit Butter zu bestreichen. Es klappte nicht ganz so
gut, das Brot rutschte mir vom Teller und landete auf meinem Schoß. Heiß! „Au, verdammt!“, fluchte ich verärgert und beförderte das Teil schnell zurück auf den Teller, wo es hingehörte.
„Und wie sieht’s aus, steigt heute ’ne fette Sause bei euch oder was?“, textete Lukas mich weiter zu, während ich das Telefon zwischen Schulter und Ohr klemmte, mich mit dem Ellbogen auf das Toastbrot stützte und mit der zweiten Hand Butter draufschmierte.
„Ehrlich gesagt, weiß ich noch gar nicht ... äh ... was heute Abend so abgeht, Luke, ich muss erst mal arbeiten gehen“, erklärte ich einem meiner neuesten Kumpel und beglückwünschte mich im Stillen dazu, dass es mir gelungen war, sowohl Butter als auch Nutella erfolgreich aufs Toastbrot zu schmieren. Der Kaffee lief soeben gurgelnd in die Kanne und allmählich breitete sich das Gefühl in mir aus, diesen Tag doch noch in den Griff zu kriegen. Und das, nachdem Marvin mich heute Morgen um sechs stinksauer aus dem Bett geschmissen hatte, weil unser Klo verstopft gewesen war und er irgendwie mir die Schuld dafür gegeben hatte. Anschließend war ich in der Küche auch noch in die Pisse von Muschi, Marvins Katze, getreten, damit war der Tag schon ziemlich im Eimer gewesen. Dass Marvin kein Geschenk für mich und meinen Geburtstag so gut wie vergessen hatte, überraschte mich nicht weiter. Ich hatte keinen Kuchen oder so was erwartet, aber irgendwie enttäuscht war ich schon darüber, dass mein runder Geburtstag ein Tag wie jeder andere war, noch dazu sogar ein ziemlich beschissener.
„Sag nicht, du arbeitest immer noch in diesem schwulen Klamottengeschäft“, stieß Luke ungläubig hervor.
Ich rollte mit den Augen und biss ins Toastbrot. Schmeckte genial. „Also, erstens kann der Laden nicht schwul sein, weil wir nur Mädchensachen verkaufen“, erklärte ich kauend, „und zweitens arbeite ich da, weil ich von irgendwas leben muss, Luke. Ich brauche ’nen Job, verstehst du? Ich hab keine Mutti, die mir die Wäsche macht, für mich einkauft und mir den Arsch abwischt, nachdem ich aufm Klo war.“
Lukas war 21 Jahre alt und wohnte noch immer bei seinen Eltern, keine Ahnung, wieso. Soweit ich das beurteilen konnte, war er eigentlich ein cleverer Kerl, er hatte eine abgeschlossene Ausbildung zum Schlosser vorzuweisen, hockte aber den ganzen Tag zu Hause und spielte Konsole. Seine Ma, eine spindeldürre Blondine, ließ ihn kommentarlos gewähren, während der Vater regelmäßig Tobsuchtsanfälle deshalb bekam.
„Ey, Mann, das ist nicht fair“, beschwerte Luke sich gekränkt. „Es ist gar nicht so leicht, hier in Berlin ’ne günstige Wohnung zu finden, außerdem hab ich euch gefragt, ob ich in eure Männer-WG einziehen darf, aber ihr wolltet ja nicht.“
Falsch. Marvin wollte nicht. Ich hätte kein Problem damit gehabt, Luke hier aufzunehmen, aber mein Mitbewohner konnte ihn nicht leiden. „Der schaut mich immer so komisch durchdringend an und irgendwie hat der was Irres im Blick. Außerdem reichen mir die ganzen Weiber, die du dauernd anschleppst, da brauch ich nicht noch diesen Kerl hier.“
Wenn man an den Teufel dachte ...
In diesem Moment kam Marvin mit saurer Miene in die Küche gelatscht und sah mich vorwurfsvoll an. „Ich hab grad einen vollgesaugten Tampon aus dem Klo gezogen, deshalb war da alles verstopft. Ekelhaft! Und hier“, er hängte mir einen roten Spitzen-BH ans Ohr, „kannst du die Scheiße vielleicht mal in deinem Zimmer behalten? Der lag in der Badewanne.“ Kein Wunder, da hatten Michelle und ich es ja vorletzte Nacht auch getrieben. Sah so aus, als wäre die Gute ohne BH nach Hause gegangen ...
Ich fischte das Ding aus meinem Gesicht, strich anzüglich über die Körbchen und grinste Marvin süffisant an.
Der schlurfte rüber zur Kaffeemaschine, das blonde Haar völlig verzottelt, in einem viel zu großen schwarzen T-Shirt und roten Boxershorts, und sah mich kopfschüttelnd an. „Du bist ein Schwein, Waldoff“, ließ er mich wissen.
„Weiß ich“, erwiderte ich achselzuckend.
„Ach ja“, Marvin schenkte sich Kaffee ein und sah mich düster an, „wäre cool, wenn du die benutzten Kondome mal in den Müll schmeißen würdest, anstatt sie im ganzen Flur zu verteilen. Irgendwann stolpert mal so ’ne hohle Trulla drüber und ist dann gleich schwanger. Und eins sag ich dir, dein Balg ziehst du nicht in dieser Wohnung groß! Wenn du eine schwängerst, schmeiß ich dich raus, Chris, bei aller Freundschaft.“ Seine Miene war todernst.
Ich hob beschwichtigend eine Hand. „Ganz ruhig, Alter, komm runter. Ich pass schon auf, dass ich nicht Daddy werde, keine Angst.“
„Das Kind wäre eh gestraft mit einem Vater wie dir“, schnaubte Marvin.
Damit verletzte er mich unabsichtlich. Ich wollte nie Kinder haben aus Angst, sie genauso schlecht zu behandeln, wie mein Vater mich behandelt hatte. Ich hätte ihnen das nicht antun wollen, hätte mich dafür gehasst, sie wie Dreck zu behandeln oder sie und meine Frau gar zu schlagen. Ich wusste nicht, ob die Veranlagung dazu nicht auch irgendwo tief in mir verborgen war. Mein Alter konnte sie mir vererbt haben. Wie sollte ich damit klarkommen, ein Monster zu sein? Um meinen Schmerz zu überspielen, sagte ich „Fick dich, Marvin“, woraufhin er mir mit der Faust drohte.
Dann stimmte er einen versöhnlicheren Ton an. „Willst auch ’nen Kaffee?“
Ich zeigte ihm meinen erhobenen Daumen und Marvin holte eine zweite Tasse aus dem Schrank. Der Henkel war abgebrochen,